Klimakrimi im Schlamm Das Institut für Geosysteme und Bioindikation rekonstruiert mit Hilfe von Sedimentbohrungen das Klima der Vergangenheit
Der Permafrostboden taut auf, Gletscher schmelzen, trockene Sommer dörren den Boden aus, Extremereignisse wie Starkregen nehmen zu – der menschengemachte Klimawandel ist im vollen Gange. Wie wird sich das Klima auf die biologische Vielfalt, wie auf unser Leben auswirken? Für den Blick in die Zukunft lohnt sich ein Blick zurück, genauer gesagt, in das Sediment von Seen.
Professorin Antje Schwalb und ihr Team vom Institut für Geosysteme und Bioindikation an der TU Braunschweig sind viel unterwegs – in Zentralasien, in Lateinamerika und auch in der Region. Sie untersuchen in Sedimentablagerungen, wie das Klima vor Jahrzehnten und Jahrtausenden das Ökosystem der Erde beeinflusst hat. Dazu bohren sie – manuell oder mit schweren Maschinen – im abgelagerten Schlamm von Seen und im Boden von Uferzonen, zum Beispiel in der Nähe von Mexico City. Meterweise kommen so Sedimentschichten zum Vorschein. Sie werden sorgsam in Plastikröhren konserviert. „Und immer schön beschriftet, wo oben und unten ist“, sagt Dr. Liseth Pérez, Biologin aus Guatemala, damit die Klimazeit nicht plötzlich Kopf stehe. Dann geht es im Kühlcontainer in das Labor nach Braunschweig oder andere spezialisierte Labore wie das LacCore in Minnesota, USA.
Scheibchenweise analysiert
Im Institut werden die Sedimentproben zunächst halbiert. Eine Hälfte wird archiviert, die andere wird scheibchenweise vermessen, datiert und unter dem Mikroskop durchleuchtet. „100 Meter Sedimentkern reichen für mehrere PhD“, sagt Doktorand Andreas Laug scherzhaft. Die Analyse nimmt in der Tat sehr viel Zeit in Anspruch, insbesondere wenn die Forschungsfrage lückenlose Daten erfordert und die „Sedimentwurst“ Millimeter für Millimeter untersucht wird.
Die Forscherinnen und Forscher aus Geologie, Geoökologie und Biologie suchen zum Beispiel nach Mikrofossilien, wie z. B. Kieselalgen, Resten von Muschelkrebsen oder Larven von Zuckmücken, die in Gewässern leben. „Das ist echte Detektivarbeit“, sagt Professorin Schwalb. Dr. Anja Schwarz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut, beschreibt das so: „Im Grunde gleicht die Sedimentprobe einer Blackbox. Man weiß nicht, was man darin entdecken wird.“ Zum Beispiel eine Phase mit Vulkanasche, die bei der Datierung der Probe hilft, oder Gipsablagerungen, die auf einen vorübergehend niedrigen Wasserspiegel hindeuten.
Anhand der Zusammensetzung des jeweiligen Sedimentabschnitts ziehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Beispiel Rückschlüsse auf den Salz- und Nährstoffgehalt des Wassers. Mit Hilfe der Organismen oder genauer gesagt der Zusammensetzung ihrer Reste sowie weiterer Ablagerungen kann das Klima der Vergangenheit rekonstruiert werden.
„Die Zusammensetzung der Arten hilft bei der Klimarekonstruktion. Bestimmte Arten sind an bestimmte Umweltbedingungen angepasst. Wenn man also Mikrofossilien einer bestimmten Art findet – zum Beispiel eine salztolerante Spezies, die einer anderen Art aber nicht – zum Beispiel ein Frischwasseranzeiger, dann kann man daraus Rückschlüsse auf das Klima ziehen.“
– Doktorand Felix Nieberding
Die aus der Sedimentanalyse gewonnenen Daten werden an Klimamodellierer weitergereicht. Sie berechnen am Computer komplexe Klimamodelle, um Prognosen für die Entwicklung des Klimas abzuleiten. „Wie gut die Modelle funktionieren, hängt maßgeblich davon ab, wie gut der Input ist“, sagt Nieberding. „Unser Beitrag ist, mit den Daten die Unsicherheiten der Modelle so weit wie möglich zu reduzieren.“
Bohrtest am Bodensee
Im Mai 2019 wird eine Forschergruppe der TU Braunschweig zum Bodensee in Baden-Württemberg reisen. Getestet wird ein neues Bohrgerät, das locker in vier Containern verstaubar und somit mobil ist: „Wir haben zusammen mit Kollegen des Internationalen Geothermiezentrums der Hochschule Bochum aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Bohrgerät mit Bohrturm und Plattform angeschafft. Jetzt können wir aus 200 Metern Wassertiefe insgesamt bis zu 99 Meter Sedimentproben ziehen“, sagt Professorin Schwalb. Um den optimalen Bohrpunkt für die beste Sedimentsequenz zu finden, kann mit seismografischen Verfahren die Sedimentmächtigkeit bestimmt werden. „Es lohnt sich auch, mehrere Sites als Messpunkte zu wählen. Auch Landmessungen beziehen wir mit ein. Wer weiß, möglicherweise hatte der See früher größere Dimensionen“, fügt Liseth Pérez hinzu.
Zeugnisse der Klimageschichte in Tibet
Sehr viel größer als der Bodensee ist der Nam Co („Himmelssee“) auf dem Tibet-Plateau in China. Mit einer Fläche von rund 2.000 Quadratkilometern ist der Salzsee fast viermal so groß wie das Schwäbische Meer. Der Himalaya und das Tibet Plateau gelten mit ihrer Höhenlage und Wasservorräten auch als der „Wasserturm für Südostasien“. Der Temperaturanstieg ist dort doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt. Der Nam Co hat viel über die Vergangenheit zu erzählen: Wie Messungen ergeben haben, ist die Sedimentschicht rund 1.000 Meter stark – und das bei einer relativ geringen jährlichen Ablagerung von unter einem Millimeter. Kein Wunder also, dass die TU Braunschweig mit einem internationalen und interdisziplinären Graduiertenkolleg – organisiert zusammen mit der Leibniz Universität Hannover und der Friedrich Schiller Universität Jena– vor Ort ist.
Im Mai und September 2019 werden die Nachwuchsforscherinnen und -forscher im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Geoecosystems in Transition on the Tibetan Plateau“ (TransTiP), wie schon im Jahr zuvor, zu einer Messkampagne nach China aufbrechen. Für drei Wochen im Mai und vier Wochen im Herbst werden sie Proben nehmen und Kohlenstoff- und Sedimentflüsse sowie die Wasserqualität untersuchen.
Daten aus Unterwasserbohrungen gelten als besonders wertvoll, um natürliche Erwärmungen und Absenkungen der Temperatur auf der Erde nachzuvollziehen. Die Aussagekraft der Sedimente ist zuverlässig und in der Vergangenheit auf Jahrtausende skalierbar. Aber auch auf Jahrzehnte. Das zeigen frühere Untersuchungen im Nam Co. „Demnach zeichneten sich die Folgen der vom Menschen ausgelösten globalen Erwärmung bereits in den 1960er-Jahren ab. Organismen reagieren sehr sensibel auf kleinste Veränderungen im Ökosystem“, sagt Dr. Anja Schwarz.
Statt von einem global climate change zu reden, setzt sich Professorin Schwalb für eine regionale Perspektive ein:
„Es zeigen sich auf regionaler Ebene viel drastischere Veränderungen. Eine Frage wäre zum Beispiel: Wo wird die nächste Dürrephase erwartet? Wohin werden Menschen abwandern, wo sich ansiedeln? Das ist auch geopolitisch interessant.“
Um solche Fragen besser beantworten zu können, möchte Schwalb künftig auch Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler mit ins Boot holen. „Wir brauchen ein besseres Verständnis der Gegenwart. Ich sehe es als unsere Aufgabe an, die Daten zu interpretieren, damit wir heute einen Nutzen daraus ziehen können.“