16. Juli 2013 | Presseinformationen:

MOBILE: Forscher entwickeln ein weltweit einzigartiges, „selbst-bewusstes“ Auto

Quelle TU Braunschweig / Rottig

Torben Stolte, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Regelungstechnik, am Steuer des MOBILE-Forschungsfahrzeugs.

Optisch erinnert das neue Fahrzeug der Technischen Universität Braunschweig an ein Spielzeugauto in der Größe eines „erwachsenen“ Fahrzeugs. Statt der Karosserie findet sich hier nur ein Gitterrohrrahmen. An ihm sind die einzelnen Komponenten angebracht. In dem Auto, das von vier Elektromotoren getrieben fast lautlos über den Asphalt schnurrt, steckt ein Kraftprotz: Fast 600 PS bringt das zwei Tonnen schwere Gefährt auf die Straße. Es ist eines der leistungsstärksten E-Fahrzeuge der Welt, und beschleunigt in drei bis vier Sekunden von null auf hundert. Entwickelt wurde es von Prof. Markus Maurer und seinem Team am Niedersächsischen Forschungszentrum Fahrzeugtechnik der TU Braunschweig.

Alle vier Räder sind mit einem jeweils eigenen Antrieb und einer Lenkeinheit versehen, die separat angesteuert werden können. Das Auto kann also jedes Rad unabhängig von den anderen bewegen, wodurch es sich praktisch auf der Stelle drehen und extrem leicht einparken lässt.

Von den „Machern“ von Leonie

Die „Macher“ von Leonie, des ersten Autos, das seit dem Jahr 2010 fahrerlos durch den Braunschweiger Straßenverkehr kurvt, haben sich mit dem MOBILE-Projekt diesmal ein neues Ziel gesteckt. „Leonie war damals aufsehenerregend, aber im Grunde die Weiterentwicklung konventioneller Fahrzeugtechnik – eine Evolution“, sagt Maurer. „MOBILE ist dagegen eine echte Revolution. Sie werden davon weltweit kein Zweites finden“. „Diesmal haben wir alles verworfen, was wir bisher über Autos wussten, und einfach von Anfang an ein ganz neues gebaut“, ergänzt Projektleiter Peter Bergmiller.

Die Wissenschaftler vom Institut für Regelungstechnik der TU Braunschweig haben mit Prof. Thomas Vietor, Institut für Konstruktionstechnik, schnell einen Partner gefunden, der das Konzept für den Rohrrahmen entwickelt hat. Der maßgeschneiderte Rahmen bot den Forschern größtmögliche Flexibilität. Außer den drei Wissenschaftlern haben fast ausschließlich Studierende das Auto entwickelt. Jede Komponente ist das Ergebnis einer Bachelor-, Master oder Diplomarbeit, insgesamt etwa 40 Arbeiten aus der Elektrotechnik, der Informations-Sytemtechnik, der Informatik, dem Wirtschaftsingenieurwesen und dem Maschinenbau.

Quelle TU Braunschweig / Rottig

Bashar Ibrahim, Student und Stipendiat am Institut für Regelungstechnik, zeigt das MOBILE-Auto im Größenvergleich mit MAX, dem Übungs-Modell im 1:5-Maßstab

Zahlreiche der einzelnen Komponenten wurden zuerst in Simulation am Rechner vorentwickelt und dann auf ein kleines eins zu fünf Modellfahrzeug portiert und dort erprobt. „Die Studierenden sind mit dem Modellauto dann in die Turnhalle gezogen, um ihre Entwicklungen auszuprobieren“, erklärt Bergmiller. Eine Hundeleine diente hier als Sicherung, um Crashs zu vermeiden. Die jungen Autobauer mussten deshalb immer zu zweit sein, einer steuert das Auto, der andere läuft hinter dem Auto her und hält es an der Leine fest. Die Kosten von 310.000 Euro haben die Braunschweiger aus Institutsmitteln und Sachspenden bestritten. Es gibt keine vertragliche Bindung an Industriepartner. Gleichwohl seien Unternehmen sehr an einzelnen Komponenten interessiert. Für die beteiligten Studierenden ist das Projekt daher auch hinsichtlich ihrer späteren Karriere interessant. „Über unsere Absolventen funktioniert bei uns der größte Teil des Wissenstransfers“, erläutert Maurer stolz.

Zu stark für die Straße

„Leider hat unser Auto keine Straßenzulassung, und auch auf unserem Testgelände können wir es nicht voll ausfahren“, sagt Bergmiller. Die Frage, warum Ingenieure überhaupt so ein Auto bauen, beantwortet Markus Maurer. Man habe sich von den Forschungspartnern wie Chris Gerdes an der Universität Stanford inspirieren lassen: „Einfach, weil man daraus etwas lernen kann.“ Tatsächlich enthält das Fahrzeugkonzept grundlegende Elemente für die Autos der Zukunft. Kernstück der Forschung ist das vollkommen neue Sicherheitskonzept. Da die Autos immer autonomer fahren und aus immer mehr Elektronik bestehen, wird dies bald existenziell wichtig sein. Die Sicherheitskonzepte der autonomen Autos der Zukunft müssen von selbst funktionieren. Denn es wird keine Menschen geben, die im Zweifelsfall wieder übernehmen. „Wir haben das stärkste mögliche E-Fahrzeug gebaut. Denn wenn wir dies im Griff haben, können wir auch mit schwächeren Fahrzeugen umgehen“, erlärt Maurer.

Auto mit „Selbst-Bewusstsein“

Bisherige Autos haben eine mechanische oder hydraulische Kopplung von Lenkrad und Bremse mit den Rädern. Der Fahrer bewegt das Auto, zwar verschiedentlich unterstützt, somit immer noch selbst. Das Lenkrad von Autos der Zukunft bewegt dagegen eine Achse, die im Leeren endet. Ihre Bewegung wird von Sensoren aufgenommen und an die relevanten Komponenten übertragen. Ähnliches gilt auch für Gaspedal und Bremsen. „Wenn Sie ein solches Auto also lenken oder bremsen, ist das im Grunde nichts mehr als eine Wunschäußerung. Sie könnten das auch mit einem Joystick machen – es käme aufs Selbe heraus“, lacht Peter Bergmiller. Die Sicherheit in diesem Auto hängt also erheblich mehr vom Funktionieren der Elektronik ab.

Quelle TU Braunschweig / Rottig

Bildschirme statt Armaturenbrett – das MOBILE-Fahrzeug ist auch innen transparent. Am „Lenkrad“: Torben Stolte.

Konventionelle Lösungen setzen dabei auf klassische Redundanz der Systeme: Für den Fall, dass in einem E-Fahrzeug während der Fahrt ein Lenkmotor ausfällt, gibt es beispielsweise einen zweiten Lenkantrieb, der die Aufgaben übernimmt. Das MOBILE-Projekt dagegen nutzt die Tatsache, dass insgesamt vier Antriebe und Lenkmotoren für die Räder vorhanden sind, und verbindet diese mit einem intelligenten Konzept. Fällt ein Antrieb aus, würde dadurch normalerweise ein Rad an beliebiger Stelle stehen bleiben. Indem die verbleibenden Antriebe sich die Aufgabe teilen, kann das Auto zumindest zur nächsten Werkstatt oder in die heimische Garage gefahren werden.

Aber ein MOBILE-Wagen muss noch mehr können. Tatsächlich muss es mehr über seine eigenen Fähigkeiten „wissen“ als seine Nutzer. Je nach Fahrsituation müssen die vorhandenen Antriebe zielgerichtet eingesetzt werden. Dabei trifft das Fahrzeug die Entscheidungen und nicht der Fahrer. Etwa dürfen bei schneller Fahrt  die Hinterräder nur wenig und anders als bei langsamer Fahrt bewegt werden, da das gesamte Auto sonst ins Schleudern geraten könnte. Die Fahrzeugelektronik muss Position und Geschwindigkeit sowie das entstehende Risiko bei jeder Aktion einschätzen können und entsprechende Entscheidungen treffen.

Während unser Forschungsfahrzeug Leonie Straße und Umgebung, Verkehrsregeln und -signale, sowie Verkehrsteilnehmer berechnen konnte, um autonom im Straßenverkehr zu agieren, zielt das MOBILE-Projekt auf Autonomie nach innen, erläutert Maurer. Es „verstehe“ das Zusammenspiel der elektronischen und mechanischen Komponenten, Kraft und Risiko sowie die im Umgang mit der komplexen Elektronik relativ eingeschränkten Möglichkeiten des Nutzers. Ziel sei es, beide Forschungsansätze zusammenzuführen.

Intelligent, emissionsarm, flexibel

Das Mobile-Projekt ist Teil der Forschungsarbeit am Niedersächsischen Forschungszentrum Fahrzeugtechnik der TU Braunschweig, welches sich auf vier Forschungsfelder konzentriert:

  • „Das Intelligente Fahrzeug“
  • „Das Emissionsarme Fahrzeug“
  • „Flexible Fahrzeugkonzepte und Fahrzeugproduktion“
  • „Mobilitätsmanagement“

Das Niedersächsische Forschungszentrum Fahrzeugtechnik der TU Braunschweig

Als interdisziplinäres Zentrum wurde das NFF 2007 mit Unterstützung der Niedersächsischen Landesregierung und der Volkswagen AG gegründet, um die Forschungsregion Braunschweig als Spitzenstandort in der Fahrzeugtechnik mit internationalem Rang zu etablieren. Es entstand damit eine effektive Kooperationsplattform für die gemeinsame Forschung von Industrie und Wissenschaft, die Anfang 2009 einen weiteren Impuls durch die Eröffnung des Standortes Wolfsburg im MobileLifeCampus erhielt. Drei der insgesamt 17 Mitgliedsinstitute des NFF sind hier angesiedelt. Als weiterer Standort ist der Neubau des Forschungsflughafens Braunschweig geplant.

Die Forschungsprogrammatik des NFF basiert auf der Vision des Metropolitan Car. Es fokussiert die Entwicklung zukünftiger fahrzeugbezogener Technologien und Nutzungsmodelle für die nachhaltige Sicherstellung der individuellen Mobilitätsbedürfnisse in Ballungsräumen.

 

Videomaterial
von den ersten Testfahrten gibt es hier:
http://www.youtube.com/playlist?list=PLmfy-N8s1k-lYrVb1YnyZ8L-qOaXxJPnq

 

Kontakt:

Prof. Dr.-Ing. Markus Maurer
Technische Universität Braunschweig
Institut für Regelungstechnik
Hans-Sommer-Str. 66
38106 Braunschweig
Tel.: +49 (0) 531 – 391 3838
E-Mail: maurer@ifr.ing.tu-bs.de

Dipl.-Ing. Peter Bergmiller
Tel.: +49 (0) 531 – 391 7879
E-Mail: bergmiller@ifr.ing.tu-bs.de