1. April 2020 | Magazin:

Eine bildwissenschaftliche Bildungshistorikerin Forschungspreis für Professorin Ulrike Pilarczyk

Preisverleihungen sind in Zeiten der Corona-Pandemie schwierig. Sie fallen aus, werden verschoben oder finden virtuell statt.  Auch Professorin Ulrike Pilarczyk vom Institut für Erziehungswissenschaft sollte am 17. März 2020 den Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) „für herausragende Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft“ erhalten. Gewürdigt wird sie für ihre Leistungen auf dem Gebiet der bildwissenschaftlichen Forschung sowie ihre langjährige Forschung zur Geschichte der jüdischen  Jugendbewegung in Deutschland und in Palästina/Israel. Auch wenn sie den Preis noch nicht in ihren Händen hält, wir gratulieren ganz herzlich!

Professorin Ulrike Pilarczyk wird mit dem Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft „für herausragende Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft“ ausgezeichnet. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Liebe Frau Professorin Pilarczyk, herzlichen Glückwunsch zum Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft! Leider konnte Ihnen bislang der Preis nicht überreicht werden.

Ja, die Mitgliederversammlung der DGfE in Köln musste abgesagt werden. Und jetzt denkt man über andere Wege nach, wie ich den Preis erhalten kann. Die Mitgliederversammlung soll im Sommer, gegebenenfalls im Herbst stattfinden.

Sie erhalten die Auszeichnung für herausragende Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft. In welchen Bereichen liegen Ihre Forschungsschwerpunkte?

Beide Forschungsschwerpunkte liegen im Feld der historischen Bildungsforschung. Ich betrachte mich also als Bildungshistorikerin. Zum einen ist das die bildwissenschaftliche Forschung mit Fotografien als historische Quellen. Seit ca. 25 Jahren bemühe ich mich, methodische Standards und methodische Verfahren dafür zu entwickeln – immer entlang an historischem Material, um Fotos als Quelle für historische Erziehungswirklichkeit wissenschaftlich nutzen und auswerten zu können.

Der zweite Schwerpunkt hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen. Dabei geht es um die deutsch-jüdische Jugendbewegung. Dazu bin ich über ein großes bildwissenschaftliches und historisch angelegtes DFG-Projekt gekommen, das die „Auswanderung von Fotografien“ ehemaliger jüdischer Jugendbewegter ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina beschrieben hat. Wir haben in dem Forschungsprojekt „wandering images“ versucht, diese Bilder zu finden, zu sammeln, zurückzuholen und die Geschichte dieser emigrierten Bilder zu erzählen. Aus dem bildwissenschaftlichen Projekt haben sich das Thema und die Fragestellungen des aktuellen Projektes „Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung zwischen den Weltkriegen in Deutschland und Palästina“ entwickelt. Wir wollen die Geschichte der jüdischen Jugend, die in dieser Zeit Deutschland Richtung Palästina verlässt bzw. verlassen muss und der Netzwerke und Institutionen, die ihre Erziehung und Emigration steuern, auf der Grundlage sehr umfangreicher Quellengrundierung untersuchen.

Das ist ein Projekt, das sich methodologisch auf Transnationalität, Intergenerationalität und Gender stützt. Wir haben bislang 25.000 Digitalisate erfasst und verschlagwortet, hauptsächlich aus israelischen Archiven (staatliche, institutionelle und auch private). Dabei handelt es sich eben auch um viele deutschsprachige Dokumente, die es hier zu dieser Geschichte leider nicht mehr gibt. In Europa ist die Quellenlage so, dass viele Archive oder das Material kriegsbedingt zerstört wurden. Deshalb sind diese Dokumente von ungeheurem Wert!

Jugend-Alija im Kibbuz Givat Brenner Mitte der 1930er-Jahre (Ausschnitt). Bildnachweis: unbek. Fotograf (Privatbesitz Fam. Michaeli, Hazorea, Israel)

Wie entstand dieses Interesse an wissenschaftlicher Bildanalyse?

Anfang der 1990er-Jahre gab es einen „pictural turn“ oder „iconic turn“. Damals haben Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler festgestellt, dass die Erziehungswissenschaft sehr traditionell an den Text gebunden ist, wir aber eine sehr wichtige Quelle unserer Lebensvollzüge nicht nutzen und zwar die bildliche Quelle. Ich bin am Anfang eher zufällig in einem DFG-Projekt gelandet, das testen sollte, inwieweit Fotografien als Quelle überhaupt auswertbar sind.

In dem Projekt an der Humboldt-Universität ging es um die Rekonstruktion von Erziehungsintentionen und Erziehungswirklichkeit in deutschen Erziehungsstaaten. Damit waren die BRD, die DDR und der Nationalsozialismus gemeint. Gemeinsam mit meiner Kollegin Ulrike Mietzner habe ich in sechs Jahren Forschung eine Methode entwickelt, wie man Fotografien wissenschaftlich nutzen und interpretieren kann. Uns war nach kurzer Zeit klar, dass man es immer mit Massen von Fotos zu tun hat, dass es sich um ein alltägliches Ausdrucksmittel handelt und dass die Vorstellung der Kunstgeschichte vom Werkcharakter des Bildes hier methodisch nicht weiterhilft. Wir haben für die Nutzung von Fotografien für sozialwissenschaftliche Fragestellungen Standards und Auswertungsmethoden entwickelt. Das gesamte methodische Set heißt „Seriell-ikonografische Fotoanalyse“.

Wir haben dann in vielen empirischen Untersuchungen diese Methode weiterentwickelt. Die Fotografien haben uns dabei Zugänge zu Wirklichkeiten geschaffen, die über andere Ausdrucksformen verschlossen bleiben. Ein Beispiel: Wenn man mit Jugendlichen spricht und sie fragt, wie sie ihre Eltern finden, dann bekommt man manchmal – wenn man Glück hat – einen Satz, wie „Die sind in Ordnung.“ Jugendliche möchten nicht unbedingt darüber reden oder es fehlt ihnen möglicherweise auch das Vokabular für bestimmte Emotionen.

Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass dann, wenn man sie bittet, ihre Familie oder ihr Zuhause zu fotografieren, auch sehr differenzierte, atmosphärisch stimmige und präzise visuelle Formulierungen dieses Verhältnisses zu den Eltern zustande kommen, die man fotoanalytisch auswerten kann. Jugendliche heute sind gewohnt, mit sehr vielen Bildern umzugehen, und sie haben sich beiläufig eine Bildkompetenz angeeignet, die wir noch gar nicht bemerkt haben. Und diese Bildkompetenz, die auch eine bestimmte Reflexionsmöglichkeit zeigt, wird nicht genutzt, wenn man diesen visuellen Zugang zu ihrer Sprache, zu ihrer Lebenswelt nicht nutzt. Da können visuelle Methoden durchaus helfen.

Wenn Sie sich in der Forschung mit der Bildanalyse beschäftigen, fotografieren Sie selbst auch viel?

Nein. Ich glaube, man muss überlegen, auf welcher Seite man steht: Auf der Seite derjenigen, die tun und etwas schaffen oder auf der Seite derjenigen, die deuten und sich damit auseinandersetzen. Ich habe mich für die letztere entschieden.

Wir werden in unserer Gesellschaft mit einer Bilderflut konfrontiert und wir sind Teil dieser Bilderflut. Es ist wünschenswert, dass wir wissen, was wir da tun. Das geht nur, wenn wir reflektieren, was zu sehen ist, was ausgedrückt und was kommuniziert wird. Sonst sind wir hilflos bestimmten bildlichen Manipulationen ausgesetzt. Ich gebe auch Seminare für Studierende, in denen wir uns im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Methodenausbildung mit visuellen Methoden auseinandersetzen. Da sind die Studierenden teilweise regelrecht geflasht, was diese Bilder transportieren und verhandeln, ohne dass ein Wort darüber gesprochen wurde.

Was hat sich in dem Bereich in den vergangenen Jahren verändert?

Was sich auf jeden Fall geändert hat, sind die Techniken und die Menge der Bilder. Wenn ich 100 Jahre zurückdenke, dann war es schon etwas Besonderes, wenn man einen Fotoapparat hatte und diesen genutzt hat. Noch vor sieben oder acht Jahren haben in den Seminaren vielleicht die Hälfte der Studierenden angegeben, regelmäßig zu fotografieren. Jetzt sind es alle! Durch die neuen Techniken, durch Smartphones sind alle zu permanenten Bildproduzentinnen und -produzenten geworden. Das ist ein großer Wandel. Manipulativer sind die Bilder, glaube ich, dadurch nicht geworden. Das Bild insgesamt sendet heute vermutlich subtilere Botschaften mit bestimmten Reizen. Noch vor 50 Jahren konnte man mit Fotografie in Zeitschriften sehr viel grober argumentieren. Auch das Vermögen, Bilder aufzunehmen, in Bildern zu denken, Bilder zuzuordnen, ist größer geworden.

Sie leiten das internationale DFG-Projekt „Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen“, das im Juli 2018 seine Arbeit aufgenommen hat. Können Sie bereits einen Zwischenstand Ihrer Forschung geben?

Das Projekt schließt an das Projekt „Wandering Images“ an. Wir arbeiten mit dem Koebner-Minerva Center for German History an der Hebrew University in Jerusalem unter Leitung von Dr. Ofer Ashkenazi zusammen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Theoretisch hat sich gezeigt, dass nationale Perspektiven auf die kulturellen und pädagogischen Entwicklungen und Institutionen der Zwischenkriegszeit viel zu kurz greifen, praktisch sehen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in dem Feld arbeiten mit einem Archivkonvolut konfrontiert, das es nun inhaltlich an den Schnittstellen von Jugendbewegung und der internationalen zionistischen Bewegung zu fassen gilt. Dies und die Mehrsprachigkeit des Materials machen die Zusammenarbeit von israelischen und deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern notwendig, um eine systematische Archivarbeit und Aufbereitung der Quellen zu ermöglichen.

Hachschara in Gut Winkel ca. 1936. Bildnachweis: Chanan Bahir (Archiv Givat Brenner, Israel)

Das kann ein Beispiel aus der Geschichte der jüdisch-zionistischen Jugendbewegung anschaulich machen. Die sogenannte Hachschara und Jugend-Alija als Vorbereitungen Jugendlicher auf die Alija nach Palästina wird bis heute, insbesondere in Deutschland, aus der Perspektive unserer spezifisch deutschen Geschichte betrachtet. Folglich werden diese Institutionen als Rettungsorganisation angesehen, während auf der anderen Seite in Israel die Perspektive auf die Jugend-Alija eine ganz andere ist: Die Jugendlichen wurden dort als Neuankömmlinge gesehen, die das jüdische Gemeinwesen aufbauen werden und man rechnet die Jugend-Alija zur Vorgeschichte des israelischen Staates. Diese beiden Perspektiven sind sehr unterschiedliche. Wenn man die Geschichte dieser Institution erzählen möchte und die Geschichte dieser Menschen, die damals weggegangen sind, dann muss man beide Perspektiven ernst nehmen und sie zusammenbringen.

Über historische Bilder bekommen wir einen ganz spezifischen Zugang zu historischer Wirklichkeit und zwar zu historischen Erfahrungen, die nicht verbalisiert worden sind. Das macht den Wert dieser Quellen aus. Wie sich Menschen in Räumen verorten, ob sie sich in sozialen Zusammenhängen verorten, vor welchen Hintergründen sie sich darstellen, das alles hat eine Bedeutung. Die Heroisierung des neuen jüdischen Arbeiters der 1930er-Jahre in der zionstischen Fotografie ist eben ein Beitrag zum „Nation building“ und wenn die Jugendliche versuchen, sich in dieses Bild hineinzuschwingen durch ihre eigenen Bilder, ist das ein Prozess bewusster Teilhabe. Solche Bildfindungs-Prozesse lassen sich analysieren, und sie eröffnen Perspektiven auf historische Wirklichkeiten, wie es keine andere Quelle auf diese Weise tut. Die Zeitzeugengeneration ist nahezu ausgestorben, was von ihnen bleibt, sind ihre niedergeschriebenen Erinnerungen und ihre Bilder.

Wie funktioniert die Kooperation mit Israel?

In dem Projekt arbeiten zwei wissenschaftliche Mitarbeiter aus Deutschland sowie eine deutsche und eine israelische Mitarbeiterin. Wir erheben unsere Quellen vornehmlich in israelischen Archiven, aber auch in den USA und Litauen. Die israelische Kollegin wohnt momentan in Leipzig und nimmt an unseren regelmäßigen Projektsitzungen hier in Braunschweig teil, was die Zusammenarbeit noch leichter machte.

Der Großteil unserer 25.000 Digitalisate sind Texte, zudem einige hundert Fotos. Das kommt zu den 15.000 Bildern aus dem Projekt „Wandering images“ hinzu, die hier im Archiv der Jüdischen Jugendbewegung an der TU archiviert sind. Das heißt: Wir fangen mit dem Projekt nicht neu an, wir nutzen nachhaltig die Bestände aus dem vorangegangenen Projekt.

Es gibt dazu ein professionelles Datenmanagement, das wir zusammen mit dem Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin erarbeiten. Begleitend zum Forschungsprojekt haben wir eine Ausstellung zum Thema Hachschara und Jugend-Alija gezeigt, die bereits in der Universitätsbibliothek der TU Braunschweig und im Schulmuseum Steinhorst gezeigt wurde. Auf der Grundlage der Tagung in Steinhorst sind wir jetzt dabei, einen Tagungsband herauszugeben mit Beiträgen, die den aktuellen Forschungsstand des Projektes repräsentieren. Der Tagungsband soll im Frühsommer erscheinen.

Das Projekt läuft erst einmal bis Juni 2021. Wir planen natürlich eine Anschlussförderung, mit guten Gründen. Die Menge an Quellen ist überwältigend. Das haben wir natürlich gehofft, aber in dieser Größenordnung war das nicht abzusehen.

Entstehen dadurch auch enge Verbindungen zu israelischen Bürgerinnen und Bürgern?

Es entstehen ganze Netzwerke. Und mit vielen Menschen sind wir befreundet. Von manchen wird man inzwischen aufgenommen wie in einer Familie. Leider sind viele der ehemaligen Jugendbewegten mittlerweile verstorben. Es ist der allerletzte Moment. Aber es gibt noch die Familien der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die eventuell Dokumente haben. Mit denen müssen wir ins Gespräch kommen.

Die Bedeutung des Projekts – über die erziehungswissenschaftliche und pädagogische Perspektive hinaus – liegt in der Bewahrung eines lebendigen Teils jüdischer-deutscher Geschichte, die so sehr stark durch den Holocaust geprägt ist. Ich fühle mich dafür verantwortlich, diese Geschichte zu erzählen.