1. September 2021 | Magazin:

Bild des Monats: Aus dem Inneren der Reibung Eingereicht von Professor Georg-Peter Ostermeyer

Ohne Reibung läuft in unserem Alltag nichts. Mal ist Reibung lebenswichtig, wie beim Bremsen von Fahrzeugen, mal ist sie unerwünscht, wie beim Ausrollen des Fahrrades und wir wieder in die Pedale treten müssen. Solche Reibungskräfte lassen sich immer noch nicht exakt berechnen oder vorhersagen. Diese Wissenslücke hält sich bereits erstaunlich lange. Seit Leonardo da Vinci wird an der Vorhersage von Reibung geforscht. Mehr Licht in das Dunkel der Phänomene der Reibung möchte Professor Georg-Peter Ostermeyer vom Institut für Dynamik und Schwingungen mit einer innovativen Maschine bringen, die auf dem Bild des Monats zu sehen ist. Seine für die Grundlagenforschung völlig neu entwickelte Maschine ermöglicht es, in situ in das Innere des Reibkontaktes zwischen zwei Körpern zu sehen. In der Reibgrenzschicht zeigt sich eine überraschend komplexe Dynamik von Wellenbewegungen und Verschleißpartikelströmung. Auf dem Bild sind beispielhaft Korkpartikel, die sich fast tanzend bewegen, zu sehen. Die Maschine ermöglicht es, die komplexen Selbstorganisationseffekte zu beobachten und so wesentlich zur Klärung unterschiedlicher Phänomene der Reibung, des Verschleißes und dem Ursprung von Reibstaubemissionen beizutragen.

Die von Professor Ostermeyer konstruierte Maschine Wear Debris Investigator soll u. a. Antworten auf Fragen zur Reibkraft von Bremsen geben. Bildnachweis: Max Fuhrmann/TU Braunschweig

Wenngleich die Reibung allgegenwärtig ist, ist Reibung bis heute ursächlich nicht verstanden. Wir nutzen die Reibung und ihre Wirkung seit Urzeiten. In der Steinzeit haben unsere Vorfahren mit gegeneinander geriebenen Hölzern Feuer gemacht. Auch heute noch wird Reibung zum Feuermachen genutzt. Die alten Ägypter haben große Steinquader mit vermutlich geölten Rollenbalken auch über größere Strecken bewegt. Auch diese Techniken nutzen wir heute noch, um Widerstandskräfte zu minimieren. Reibung ist mal erwünscht und mal nicht. Auf der einen Seite gibt es ohne Reibung kein Gehen, Laufen oder Rollen, wie man unschwer auf einem zugefrorenen See feststellen kann. Hier sind nur sehr kleine Schritte oder Beschleunigungen möglich. Aber Reibung ist auf der anderen Seite auch für eine unfassbar große Menge an Energievernichtung in unserer Welt verantwortlich, da die Funktionalität vieler Prozesse und Maschinen Reibung als unerwünschtes und nicht vermeidbares Nebenprodukt enthält, welche energetisch mitbedient werden muss.

Künstliche Verschleißpartikel zwischen weichem Kork und hartem Glas im Wear Debris Investigator. Bildnachweis: Max Fuhrmann/TU Braunschweig

Mitte des 15. Jahrhunderts war Leonardo da Vinci wohl der erste Wissenschaftler, der grundlegende Eigenschaften der Reibung in Versuchsskizzen darlegte. Wenngleich seit damals sehr viele Versuche, Erklärungen und Ergebnisse generiert wurden, wird bis heute oft das sehr einfache Coulombsche Reibgesetz für die elementaren Zustände Haften und Gleiten in der Simulation und Systembeschreibung genutzt. Dieses Gesetz für die trockene Reibung liefert recht gute Resultate, wenn man näherungsweise Punktkontakte hat und die Reibung das Systemgeschehen nicht energetisch oder phänomenologisch dominiert.

Bessere Vorhersagen der Reibung notwendig

Die mathematischen und rechentechnischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ermöglichten es der Systemdynamik, immer genauere mathematische Abbilder von Maschinen und Prozessen zu entwickeln, sogenannte Digital Twins. Diese virtuellen Funktionskopien realer Systeme will man kostengünstig stellvertretend für reale gesundheitsgefährdende Prozesse oder teure Hardwareentwicklungen in frühen Entwicklungsphasen nutzen. Dies gelingt aber nur, wenn bezüglich der Fragen an das Modell dessen Verhalten hinreichend nahe der Wirklichkeit ist.

Dies funktioniert schon faszinierend gut. Abgesehen von der mathematisch-informatischen Seite ist der Hintergrund, dass alle elementaren insbesondere mechanischen Kräfte außer der Reibung wohlverstanden sind. Diese lassen sich sehr gut messen. Sie werden, meist untereinander kombiniert und mit nichtmechanischen Größen gekoppelt, genutzt, um immer genauere Systemvorhersagen in vielen Bereichen unseres täglichen Lebens zu liefern. Die Systemdynamik hat deshalb einen ungeahnten Siegeszug insbesondere in den letzten Jahrzehnten angetreten. Unter anderem ermöglichen diese Elementarkräfte Simulationsbaukästen, die auch Nichtfachleuten den Aufbau von Digital Twins erlauben.

Hierbei stößt man aber immer wieder an Grenzen, die zum einen mit der Komplexität von nichtlinearer Dynamik wie Selbstorganisation, Chaos und Turbulenz zusammenhängen aber auch mit der Natur der letzten unbekannten elementaren Kraft der Mechanik, der Reibung.

Noch keine vollständige wissenschaftliche Erklärung der Reibkraft in Bremsen

Besonders deutlich wird das in tribologischen Hochlastkontakten wie zum Beispiel Bremsen. Bremsen bestehen aus Scheiben oder Trommeln, gegen die Beläge gedrückt werden. Die Beläge selbst bestehen aus bis zu 20 unterschiedlichen Ingredienzen, die in der Regel in Harz gebunden sind. Die Reibpaarungen müssen jederzeit hohe Reibkräfte generieren, sollen aber gleichzeitig eine hohe Lebensdauer haben. Die Entwicklung der Beläge ist wohlgehütetes Geheimnis der Firmen. Sie wird fast ausschließlich durch Trial and Error definiert. Eine kausale wissenschaftliche Erklärung der Reibkraft aus den Inhaltsstoffen und den resultierenden mechanischen, thermischen und chemischen Reaktionen gibt es bis heute auch ansatzweise nicht. Warum die Reibkraft zu unterschiedlichen Zeiten bei ansonsten exakt gleichen Bedingungen unterschiedlich ist, fängt man erst jetzt an zu verstehen. Der Verschleißstaub in der Reibgrenzschicht bildet temporäre zusätzliche Reibflächen, die wesentlich die Kurzzeit-Lastgeschichte der Bremse speichern. Ein weiteres heute im Fokus stehendes Problem sind die emittierten Verschleißstäube der Bremse, die bei immer geringer werdenden Emissionen von Motoren die Emissionssignatur eines Fahrzeuges prägen. Zusammen mit einem Teil des Reifenverschleißes bilden sie langlebige und zum Teil lungengängige Schadstoffe in der Luft.

Ziel Emissionen zu verringern

Wie können die Bremsenemissionen in der Stadt durch sinnvolle Bremsaktionen und Verkehrslenkungen vermindert werden, um etwa Einwohner*innen wirksamer zu schützen? Wie muss der materielle Aufbau von Bremsbelägen verändert werden, damit die Emissionen weniger gesundheitsschädigend sind?

Diese Fragen sind völlig offen. Die Maschine im Bild des Monats soll erste Antworten geben.