„Wir hoffen auf eine wissenschaftliche Revolution“ Professor Martin Neef über das Wesen der Sprache
Grundsätzlich geht es in dem Buch um eine Frage, die immer wieder Diskussionen unter Fachleuten auslöst: Was ist Sprache? Eine einfache Frage, die zu verhärteten Fronten in der sprachwissenschaftlichen Forschungslandschaft geführt hat. Und ein Name taucht dabei immer wieder auf: Noam Chomsky, einer der weltweit bekanntesten Linguisten. Ich treffe mich mit Professor Martin Neef von der TU Braunschweig, einem der beiden Herausgeber des Buches „Essays on Linguistic Realism“.
Wir sitzen an einem runden Tisch. Das Büro von Professor Martin Neef ist klein und nüchtern eingerichtet. An der Wand drei Gemälde, an der anderen ein Bücherregal. Ein Blickfang sind zwei alte Tonbandgeräte. Vor uns liegt ein Essayband mit rund 300 Seiten. „Wir bewegen uns mit diesem Buch im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Sprachwissenschaft“, sagt er. Das Buch, erschienen bei John Benjamins in Amsterdam, sei das wichtigste Buch seiner Karriere. Bislang hat Neef zehn Sammelbände mitherausgegeben. „Wir hoffen auf eine wissenschaftliche Revolution“, sagt er. Ich erinnere mich an einen Kurs für Theoretische Grammatik und wünsche mir, dass das helfen wird, die erhoffte Revolution zu verstehen.
Empirisch, mental und abstrakt
Insgesamt gäbe es heute drei grundlegende Auffassungen, was Sprache sein kann, erklärt Neef. Vor Chomsky seien Linguistinnen und Linguisten der Meinung, Sprachgebrauch sei Sprache. Sie beschrieben Sprache als empirisches Objekt. Abgelöst wurde diese Auffassung von Chomskys Konzept. Zunächst hielt er treffend fest: Sprachgebrauch sei der Gebrauch von Sprache, aber nicht Sprache. Er war vielmehr davon überzeugt, dass das Wesen von Sprache das ist, was Menschen über Sprache wissen. Chomskys Idee vom Sprachwissen fand große Zustimmung und zog eine erhebliche Wandlung der theoretischen Linguistik nach sich. Ein Kategoriefehler wurde aufgedeckt und beseitigt.
Noch ein Kategoriefehler
Professor Neef macht es spannend und setzt seinen Ausflug in die Wissenschaftsgeschichte fort. „Es gab natürlich auch Stimmen, die Chomskys Sichweise nicht teilten.“ Eine davon war der Sprachphilosoph Jerrold J. Katz. Zu Beginn der 1980er-Jahre brachte er ein drittes Sprachkonzept ins Spiel. Wenn es Wissen über Sprache gäbe, exitsiere der Gegenstand „Sprache“ unabhängig vom Wissen. „Demnach liegt auch bei Chomsky ein Kategoriefehler vor“, so Neef. Verstanden, aber dann wird es kompliziert.
Sprache sei – in der realistischen Linguistik – ein abstraktes Objekt. Andere Wissenschaften, die sich mit abstrakten Objekten befassen, sind zum Beispiel die Logik und Mathematik. Wird eine bestimmte Sprache benutzt oder verfügt man Wissen darüber, bezieht man sich stets auf ein abstraktes Objekt – also auf abstrahierte Eigenschaften von natürlichen Sprachen, von Sätzen, Wörtern und Lauten.
Braunschweig auf der linguistischen Wissenschaftslandkarte
Sprache als abstraktes Objekt – davon handeln die Essays in dem vorliegenden Band mit elf Autoren aus den USA, Kanada, Ungarn, Südafrika und Deutschland. Die enthaltenen Texte sind das Ergebnis eines Workshops im Juni 2015. Damals organisierte Professor Neef mit seiner kanadischen Kollegin Christina Behme eine Tagung in Braunschweig. Paul M. Postal, Jahrgang 1936 und Linguist an der New York University, der altersbedingt nicht anreisen konnte, steuerte seinen Beitrag in einer Videokonferenz bei.
Chomskyaner oder Realisten – das ist hier die Frage!
Warum aber sei die Publikation so wichtig, frage ich Neef. Was die Veröffentlichung so bedeutsam mache, gehe auf die Tatsache zurück, dass Chomskys Paradigma der „Generativen Linguistik“ alle anderen Ansätze dominierte. Die Realisten hingegen übten sich in der Verteidgung ihres Paradigmas. Eine Bündelung einzelner Perspektiven von Anhängern der nicht mehr ganz so neuen realistischen Linguistik gab es bis zur Veröffentlichung des Sammelbandes nicht. „Den Widerspruch zwischen Sprache und Sprachwissen möchten wir auflösen und bisherige Ergebnisse reinterpretieren“, sagt Neef. Die Brisanz des Bandes wird noch deutlicher, wenn man weiß, wie unbeirrbar Chomsky über Jahre hinweg Kritik ablehnte. Und das trotz Mängel in seinen linguistischen Grundannahmen, die er 2004 in einem Interview selbst einräumte und ihm den Vorwurf des unwissenschaftlichen Arbeitens einbrachte.
Sprache – mathematisch modelliert
Ich blättere noch einmal in dem Band und stoße auf eine Art Baumdiagramm, das auf den ersten Blick nicht viel mit Sprache zu tun hat. Ein Essay verweist auf Schriften von Carl Friedrich Gauß und Richard Dedekind, beide in Braunschweig geborene Mathematiker. Aber warum? Robert Levine von der Ohio State University (USA) ist Sprachwissenschaftler und modelliert in seinem Essay Sprache mit mathematischen Mitteln. Deutlicher kann man Sprache nicht als abstraktes Objekt sehen.
Doch wo findet die Revolution statt? Welche Auswirkungen würde ein Paradigmenwechsel haben? An Universitäten könne die Linguistik als Disziplin gestärkt werden: „Als realistischer Linguist kann man sich allein auf sein Fach konzentrieren, ohne über Sprachgebrauch oder sprachliches Wissen nachdenken zu müssen. Es geht in der Grundlagenforschung zunächst nicht um eine Anwendung, sondern um theoretische Konsistenz und größtmögliche Datenangemessenheit.“ Gleichwohl ist Martin Neef davon überzeugt, dass Theorien der Realistischen Linguistik viel für andere Fächer bewirken können.