29. Oktober 2020 | Magazin:

Tsunami im Wellenkanal Versuche mit Flutwellen für stabile Bauwerke

Was genau passiert bei einem Tsunami? Welche Auswirkungen hat die Flutwelle auf Wohnhäuser, Lagerhallen und Brücken? Wie sicher sind Bauwerke noch, wenn Pfeiler und Mauern von Wassermassen überströmt wurden? Um mehr darüber zu erfahren, hat ein internationales Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der TU Braunschweig, der Leibniz Universität Hannover und der University of Ottawa in Kanada am Großen Wellenkanal des Forschungszentrums Küste (FZK) Tsunami-ähnliche Wellen generiert.

Eine Tsunami-Welle rollt durch den Wellenkanal. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

So viel vorweg: Wer bei den Experimenten haushohe Wellen erwartet, wird enttäuscht. Maximal 1,10 Meter hoch sind die Tsunami-Wellen im Großen Wellenkanal (GWK) in Hannover. „Das ist natürlich ein Labormaßstab, den Naturmaßstab bekommen wir wohl kaum genehmigt“, sagt Clemens Krautwald, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leichtweiß-Institut für Wasserbau (LWI), augenzwinkernd. Dennoch kann die Kraft eines solchen Tsunami im Maßstab von 1:5 beim Blick in den GWK erahnt werden.

Stabilität von Bauwerken gefährdet

Mit voller Wucht prallt die heranrollende Flutwelle auf einen Pfeiler aus Plexiglas, lässt Wasser in die Höhe spritzen, umspült die Säule und zieht beim Rücklauf Sand im Kanal mit sich. Die im Boden eingebaute Stütze simuliert einen Brückenpfeiler, der hier eine Grundfläche von 60 mal 60 Zentimetern hat, in der Natur entsprechen dies rund drei mal drei Meter. Ziel der Versuche ist es, die Kolkbildung durch einen Tsunami um ein Bauwerk präzise aufzunehmen, also die Entstehung einer lokalen Auswaschung von Boden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen wissen, was um diesen Pfeiler herum passiert. Rund um die Plexiglas-Stütze entstehen stärkere Turbulenzen, Sediment wird herausgelöst. Der Pfeiler ist nicht mehr fest im Boden verankert. In Tsunami-Gebieten, wie Indonesien, dem Mittelmeerraum oder auch Nordamerika, könnte nach einer solchen Flutwelle die Stabilität von Bauwerken gefährdet sein.

Noch ist alles ruhig im Wellenkanal. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Der Große Wellenkanal wird für die Tsunami-ähnlichen Wellen vorbereitet. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Die im Sand eingebaute Stütze aus Plexiglas simuliert einen Brückenpfeiler. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Die wichtigen Werkzeuge zum Profilieren des Sands im Kanal. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Schaufeln und glätten: Erst einmal müssen die insgesamt 1.600 Kubikmeter Sand im Kanal profiliert werden. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Kurze Arbeitspause. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Nach jedem Versuchstag musste das Team den gesamten 60 Meter langen Strandabschnitt wieder glätten. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Der Boden um den Brückenpfeiler herum ist ausgewaschen. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Sieht doch schon gut aus! Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Einmal bitte wieder saubermachen! Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Damit die Forschenden während des Versuchs durch die Wassersäule sehen können, ist der Pfeiler aus Plexiglas. Vier kleine Kameras haben sie innen angebracht. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Der Verlauf des Wasserspiegels, die Höhe, Periode und Geschwindigkeit der Welle sowie die Fließtiefen um das Bauwerk herum werden gemessen. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Noch ein kritischer Blick von Alexander Schendel vom Ludwig-Franzius-Institut für Wasserbau, Ästuar- und Küsteningenieurwesen der Leibniz Universität Hannover. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Messgeräte und Kameras sind rund um den Pfeiler installiert. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Die Flutwelle rollt heran. Bildnachweis: Gideon Rothmann/TU Braunschweig

Mit voller Wucht prallt die heranrollende Flutwelle auf den Pfeiler aus Plexiglas. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Beim Rücklauf zieht die Welle Sand im Kanal mit sich. Bildnachweis: LWI/TU Braunschweig

Für die Strukturstabilität ist es wichtig, die maximale Kolktiefe zu kennen. Die Kolktiefe ist die Erosion in der Nähe eines Bauteils. Aber was ist dann die maximale Kolktiefe? Das erklärt Clemens Krautwald ganz plastisch: „Eine Welle überspült meine Füße am Strand. Wenn die Welle wieder weg ist, sehe ich, dass etwas Sand auf den Füßen bleibt, und die Füße etwas eingesackt sind. Das, was ich sehe und messen kann, ist die Endkolktiefe. Was ich während des Prozesses gespürt habe, ist die maximale Kolktiefe.“

Die maximale Kolktiefe kann im Anschluss an einen Tsunami nicht mehr gemessen werden. Die Berechnungsformeln rühren daher bislang überwiegend aus Felduntersuchungen im Anschluss eines Tsunami. Das ist eigentlich zu spät, um den für die Strukturstabilität wichtigen Prozess genau nachvollziehen zu können. „Deshalb ist es einmalig und eine Riesen-Chance, dass wir diese großskaligen Versuche an unserem Großen Wellenkanal vornehmen konnten“, freut sich Clemens Krautwald.

Ein Strand im Wellenkanal

Neun Versuchstage über vier Wochen verteilt, hatte das Forschungsteam für seine Experimente eingeplant. Doch bevor die erste Welle durch den Kanal floss, mussten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erst einmal die insgesamt 1.600 Kubikmeter Sand im Kanal profilieren – dabei mussten rund 30 Kubikmeter Sand bewegt werden. Nicht alles allein mit Muskelkraft, auch kleinere Maschinen und Greifer kamen zum Einsatz. Nach jedem Versuchstag musste das Team den gesamten 60 Meter langen Strandabschnitt wieder glätten.

Zuvor wurde die Kolkstelle abfotografiert und das Erosionsprofil mit einem 3D Laserscanner vermessen. Um den Modelltsunami mit der Realität vergleichen zu können, wurden während der Versuche der Verlauf des Wasserspiegels, die Höhe, Periode und Geschwindigkeit der Welle sowie die Fließtiefen um das Bauwerk herum gemessen. „Nur wenn wir alle Messdaten sinnvoll und logisch verknüpfen, werden wir in der Lage sein, die dahinterliegenden Prozesse zu verstehen und Handlungsempfehlungen zu geben“, sagt Professor Nils Goseberg, Leiter der Abteilung Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau des LWI.

Damit die Forschenden während des Versuchs durch die Wassersäule sehen können, ist der Pfeiler aus Plexiglas. Vier kleine Kameras haben sie innen angebracht, die unter anderem den zeitlichen Verlauf der Kolktiefe aufgenommen haben. Über Drucksensoren direkt an der Stütze unterhalb des Bodens wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Rückschlüsse ziehen, ob der Boden noch tragfähig ist.

Relevant ist das unter anderem für Brücken, die als Fluchtwege bei einem Tsunami genutzt werden. Die Brückenpfeiler müssen tief genug im Boden verankert sein, damit sie der Belastung durch das Wasser standhalten. Wie tief, das wollen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit ihren Versuchen herausfinden. Momentan liegt die Bemessungskolktiefe bei maximal 3,60 Metern. „Wir gehen davon aus, dass das zu wenig sein könnte“, so Clemens Krautwald.

Nach dem Versuch ist vor dem Versuch

Eine ähnliche Studie wurde zuletzt vor rund 20 Jahren vorgenommen, berichtet er. Die aktuellen amerikanischen Baurichtlinien der American Society of Civil Engineering (ASCE), die weltweit als Maßstab für die Bemessung von tsunami-sicheren Bauwerke gelten, beruhen daher vor allem auf Beobachtungen.

Nach der Versuchsreihe im Großen Wellenkanal, der jetzt für die Erweiterung zum GWKplus umgebaut wird, sind weitere Experimente in der Versuchshalle des LWI geplant. Um die Effekte vergleichen zu können, wird das Team das exakt gleiche Sediment im 1- und 2-Meter-Kanal verwenden. Nur die Wellen werden dann etwas kleiner sein.

Videos: LWI/TU Braunschweig