Ein durchaus unwahrscheinlicher Ort Nach 59 Jahren schließt das unabhängige Studierendenwohnheim in der Gaußstraße 16
Im November 2016 kam die schlechte Nachricht: Das Studierendenwohnheim in der Gaußstraße 16 ist so sanierungsbedürftig, dass es aus Sicherheitsgründen in naher Zukunft geschlossen werden muss. Was folgte, war eine Geschichte voller Höhen und Tiefen, über Engagement und den Wert der Vielfalt, Altruismus und den konstruktiven Umgang mit Fehlern im System. Die Bewohnerinnen und Bewohner ziehen eine gleichzeitig wehmütige und positive Bilanz.
Ein reguläres Wohnheim war „Gauß 16“ eigentlich nie. Es wurde 1958 gegründet, als das Gebäude im Besitz der damaligen Pädagogischen Hochschule (PH) war. Die damaligen Studentenwerke waren noch nicht überall für den Bau und Betrieb der Wohnheime zuständig. Mit der Eingliederung der PH in die Technische Universität Braunschweig 1978 ging auch diese Landesliegenschaft in die Verantwortung der TU Braunschweig über. In die Nutzung durch die Universität wurde es jedoch nicht überführt – Generationen von Bewohnerinnen und Bewohnern genossen Bestandsschutz. Ein gemeinnütziger Verein übernahm die Trägerschaft. Studierende aller Fächer, auch der Hochschule für Bildende Künste, aus vielen Nationen fanden hier ein zu Hause. So gut wie alle Aufgaben, von der Auswahl der neuen Mitbewohnerinnen und -bewohner über Hausmeisteraufgaben bis zur Reparatur des WLAN hat die Gemeinschaft seither in Selbstverwaltung erledigt.
„Bunt, inspirierend, familiär und nun: sanierungsbedürftig!“ hieß es im November 2016. Bei geschätzten Gesamtkosten für die Sanierung von über 1.3 Millionen Euro schien die Schließung unvermeidlich. Unter Aufbringung einer Summe von 500.000 Euro bis Ende März hätte das Wohnheim, so der damalige Kompromiss zwischen Wohngemeinschaft und Universität, erhalten werden können. Eine Summe, die der Trägerverein nicht aufbringen konnte.
Wohnheim als Kulturzentrum
Bis zum Schluss haben die Studierenden trotzdem um ihr Wohnheim gekämpft: Mit Spendenaufrufen Straßenfesten, Wohnzimmerkonzerten und sogar einer Fahrraddemo wurden Mittel gesammelt. Internetseiten und Zeitungsinterviews begleiteten die Aktionen. Zeitweilig wurde das Wohnheim zusätzlich zum Kulturzentrum. Bei großer Resonanz schien jedoch nach wie vor die Erreichung des Spendenziels utopisch. Immerhin: Das Studentenwerk Braunschweig hatte unterdessen eine Alternative entwickelt, ein neues Wohnprojekt gemeinsam mit geflüchteten Studierenden in einem Neubau am Bieberweg.
Im März meldete sich ein Bürger mit dem Angebot, dem Wohnheim einen Kredit in der erforderlichen Höhe über eine Zwischenfinanzierung durch seine Bank zur Verfügung zu stellen. „Wir sind aus allen Wolken gefallen. Bis wir diesen Menschen persönlich getroffen haben, hat eigentlich niemand geglaubt, dass er existiert“, sagt Stefanie Buchholz. Aber der Mäzen existierte, und man kam ins Gespräch. Eine Lösung schien in Sicht.
„Wir haben viel über Organisation gelernt.“
Inzwischen ist klar, dass es anders kommen sollte. Die Prognose der Sanierungskosten hat sich nach einem aktualisierten Gutachten auf insgesamt 1.6 Millionen Euro erhöht. Auch der in Aussicht gestellte Privatkredit ist inzwischen an den Auflagen der Bank gescheitert. Nach und nach zogen Mitbewohnerinnen und -bewohner aus – sie hatten Ihr Examen absolviert oder gingen ins Ausland. „Unter diesen Umständen ist es natürlich schwierig, die Zimmer an neue Studierende zu vergeben“, erklärt Stefanie Buchholz. Sie und ihre Mitstreiter Annette Lien und Daniel Tschertkow sind trotzdem nicht verbittert. „Wir wussten ja von Anfang an, dass unsere Chancen nicht gut waren“, sagen sie. Es sei eben so passiert, niemand trage die Schuld daran. „Für uns können wir sagen, dass wir alles getan haben, um die Schließung zu verhindern. Insofern bin ich zufrieden, mit dem, was wir auf die Beine gestellt haben.“ Auch wenn in der heißen Phase so manche Klausurvorbereitung hinter den Aufgaben für die Gaußstraße 16 zurückstehen musste, bereuen die drei ihr Engagement keineswegs. „Die Kommunikation mitsamt Webseite, Facebook und Medienarbeit war wirklich anstrengend. Aber wir haben unglaublich viel über Organisation gelernt“, sagt Annette Lien. „Schon die Erfahrung, dass es jemanden gibt, der bereit ist eine halbe Millionen Euro in ein gemeinnütziges Projekt zu stecken, war enorm bereichernd“, fügt Stefanie Buchholz hinzu. „Als wir ihn getroffen haben, dachte ich, man sollte irgendwie danke sagen – aber das kam mir dann gleichzeitig unangemessen wenig vor.“
Spenden werden zurückgezahlt
„Allen, die uns unterstützt haben, danken wir herzlich“, sagt Daniel Tschertkow. „Auch unseren Nachbarn, die uns überwiegend wohlwollend geduldet und zum Teil unterstützt haben. Die Spenden, die zurückverfolgt werden können, werden nun zurückgezahlt. Der Rest, zum Beispiel aus Einnahmen durch die Konzerte, soll einem gemeinnützigen Zweck zugeführt werden. Auf der Webseite von „Gauß16„wird veröffentlicht, welcher Zweck genau das sein wird.
Annette Lien sagt: “Ohne die anderen hier, wenn ich nur mit meinen Kommilitonen aus dem eigenen Fach zu tun habe, fühle ich mich wie in einer Blase.“ Zwei der zum Schluss noch neun Bewohnerinnen und Bewohner haben Braunschweig verlassen, fünf haben eine Wohnung für eine neue kleine „Gauss“-WG gefunden und sind dort sehr glücklich. Viele Möbel und Andenken aus der Gaußstraße 16 haben dort ihren Platz gefunden.