Die Schönheit von Theorie und ihrer Anwendung Benedikt Jahnel ist neuer Professor für anwendungsbezogene Stochastik
Mathematik und Musik: Das sind die beiden großen Leidenschaften von Benedikt Jahnel. Nach seiner Habilitation an der TU Berlin im vergangenen Jahr startet er im April 2022 an der Technischen Universität Braunschweig als Professor für anwendungsbezogene Stochastik. Seine Forschungsthemen reichen von der statistischen Physik über dezentrale Mobilfunknetze der Zukunft bis hin zur Erforschung von Epidemien. Damit kann er in drei TU-Forschungsschwerpunkten Neues einbringen: „Infektionen und Wirkstoffe“, „Stadt der Zukunft“ und „Mobilität“. Die Studierenden möchte Jahnel für die Schönheit der Theorie und ihre Anwendungen begeistern, wie er Markus Hörster im Interview erzählt hat.
Herr Jahnel, wenn man sich Ihren Lebenslauf anschaut, fällt sofort auf: Sie sind nicht nur Mathematiker, sondern haben auch Abschlüsse in Musikpädagogik. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Kombination?
Ich hatte in der Schule Leistungskurs Mathematik. Eine weitere Leidenschaft war und ist aber die Musik und ich habe mich daher zunächst dafür entschieden, an der Universität der Künste in Berlin Musikpädagogik zu studieren. Gegen Ende meines Studiums war ich in einer gewissen Lebenskrise und habe mich umorientiert. Parallel zu meinem Musikstudium hatte ich damit begonnen, an der TU Berlin Mathematik zu studieren, was mir großen Spaß gemacht hat. Ich hatte immer Musik gemacht und Klavier gespielt, aber dann relativ radikal mit dem Üben aufgehört.
Nach meinem Vordiplom in Musik, habe ich die Mathematik erst einmal auf Eis gelegt, da mir der DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst – d. R.) die Möglichkeit gegeben hat, für zwei Jahre als Masterstudent ans City College nach New York zu gehen. Dort Musik zu studieren, im Mekka des Jazz, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Im Anschluss habe ich meinen „Mathestift“ wieder aufgenommen und an der TU Berlin mein Diplom gemacht. Danach habe ich an der Ruhr-Universität in Bochum promoviert und an der TU Berlin habilitiert.
Sie sind Jazzmusiker und als Pianist mit Ihrem „Benedikt Jahnel Trio“ und anderen Formationen international unterwegs. Die Improvisation ist ein wichtiges Element im Jazz. Für Sie ein guter Ausgleich zur Mathematik, die ja mit Gefühlen und Emotionen wenig zu tun hat?
Ja, für mich ist es ein Ausgleich. Es gibt natürlich auch in der Musik Regeln und in der Mathematik gibt es Situationen, in denen man auch mal ganz aufgeregt und voller Emotionen ist. Aber es sind schon ganz unterschiedliche Dinge. Was ich in beiden Disziplinen gerne mag: Die Musik und die Mathematik sind Teamsportarten.
Inwiefern helfen Ihnen die musikalischen Kenntnisse in der Mathematik um umgekehrt?
Sowohl die Mathematik als auch die Musik haben etwas damit zu tun, dass man sich eine Welt mit Regeln schafft. In beiden Welten gibt es einen Rahmen, in dem man sich dann intuitiv bewegt. Und beides hat viel mit Übung zu tun. Fleiß ist in beiden Disziplinen von zentraler Bedeutung.
Sie sind nun neuer Professor für Stochastik an der TU Braunschweig. Warum haben Sie sich für die Carolo-Wilhelmina entschieden?
Ich bin angewandter Mathematiker und habe mein Diplom in Berlin ebenfalls an einer Technischen Universität gemacht. Seit mehr als sechs Jahren arbeite ich nun an einem außeruniversitären Forschungsinstitut, dem Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik in Berlin. Dabei bin ich immer mehr zur Überzeugung gekommen, dass ich die Verbindung zwischen abstrakter Mathematik und ihren Anwendungen mag.
Ich lebe das in meinem Forschungsalltag, indem ich Gespräche mit Ingenieur*innen und Physiker*innen führe und ihre Aussagen in mathematische Fragestellungen übersetze. So entsteht eine Dialektik zwischen der Anwendung und der abstrakten Sprache der Mathematik. Meine Professur auf dem Gebiet „Stochastik für Anwendungen“ passt sehr gut dazu, da ich viele Jahre Erfahrungen mit stochastischen Methoden für Anwendungen in der Physik oder auch in Kommunikationssystemen sammeln konnte. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit in den Forschungsschwerpunkten „Infektionen und Wirkstoffe“, „Stadt der Zukunft“ sowie „Mobilität“ der TU Braunschweig.
Ein hochaktuelles Thema, mit dem Sie sich beschäftigen, ist die Verbreitung von Epidemien. Was ist dabei aus mathematischer Sicht die besonders große Herausforderung?
Die Herausforderung ist die Komplexität des Systems. Viele klassische Modelle betrachten zum Beispiel nicht die räumliche Verteilung der Menschen, die sich unkontrolliert und zufällig bewegen. Daher bin ich davon überzeugt, dass man dort am besten mit der Brille der Wahrscheinlichkeitstheorie draufschaut. Man sieht zufällige Konfigurationen und Agenten im Raum, die Kontakte haben und so einen Virus übertragen können. Dabei hat man es mit einem extrem hohen Grad an Komplexität zu tun.
Es ist unser Wunsch als Wissenschaftler*innen, aus dieser Komplexität globale Aussagen treffen zu können: Stirbt die Infektion aus? Ja oder nein? Interessant sind dabei vor allem auch die Phasenübergänge von einem lokalen hin zu einem globalen Infektionsgeschehen. Im ersten Schritt geht es darum, zu verstehen, wie die Verbreitung funktioniert und im zweiten Schritt, wie man sie effektiv bekämpfen kann.
Bei der räumlichen Betrachtung wird deutlich, dass es sogenannte „Superspreader“ gibt. In Epidemien gibt es eine große Anzahl Menschen, die kaum infektiös sind und dann gibt es andere, die starke Treiber des Infektionsgeschehens sind. Diese „Superspreader“ rechtzeitig identifizieren zu können, würde uns bei der Bekämpfung von Epidemien sehr voranbringen. Ich sehe mich als Teil dieses riesigen interdisziplinären Forschungsgebietes.
Mit 5G startet ein Paradigmenwechsel hin zu dezentralen Mobilfunknetzen. Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehört auch die stochastische Geometrie für Telekommunikationssysteme. Was kann man sich darunter vorstellen?
Ein klassisches Anwendungsfeld ist die Car-2-Car-Kommunikation. Wenn man an selbstfahrende Autos der Zukunft denkt, dann müssen sie, um gefährliche Situationen zu vermeiden, sehr schnell und robust miteinander kommunizieren können. Die aktuell üblichen zellulären Netzwerke, in denen Autos mit einer Basisstation kommunizieren, sind dafür nicht gut genug gerüstet. Es wäre viel besser, wenn die Autos direkt miteinander kommunizieren könnten.
Diese Idee von Peer-2-Peer Kommunikation findet sich in vielen Bereichen der Kommunikation wieder. Ein interessantes Beispiel ist die App „FireChat“, die bei den Protesten in Hongkong eine wichtige Rolle gespielt hat. Nachdem die Regierung die Basisstation ausgeschaltet hatte, konnten die Demonstrierenden weiterhin über diese App mit Hilfe der Bluetooth-Technologie kommunizieren. Auch hier spielt die nicht steuerbare räumliche Konfiguration der Netzwerkteilnehmenden eine zentrale Rolle. Daher lässt sich auch dies sehr gut mit Wahrscheinlichkeitstheorie betrachten.
Kleine Startups könnten mit einer solchen dezentralen Mobilfunktechnologie eigene Netze aufbauen. Eine Entwicklung, die die etablierten großen Kommunikationskonzerne mit ihrer milliardenschweren Infrastruktur zwar mit Sorge betrachten. Andererseits ist es für schlecht ans Internet angebundene Regionen – wie entlegene Inseln – eine Chance, sich kostengünstig mit einem Kommunikationsnetzwerk auszustatten.
Ihr dritter großer Forschungsschwerpunkt ist die statistische Physik, in dem Sie auch promoviert haben. Womit beschäftigen Sie sich darin?
Wenn wir ein Material oder eine Flüssigkeit, wie Wasser in einem Glas, betrachten, dann hat die Physik sehr gute Modelle, je nachdem wie stark man das Material unter dem Mikroskop anschaut. Es gibt die superfeine quantentheoretische Ebene, die molekulare Ebene sowie die thermodynamische Ebene, die den Aggregatszustand betrachtet. Diese verschiedenen Beschreibungsebenen müssen ineinander überführbar sein.
Ich setze an der Schnittstelle von der mikroskopischen molekularen Ebene zur makroskopischen thermodynamischen Ebene an. Wenn ich das Wasser im Glas erhitze, findet ein Phasenübergang statt. Das Wasser verdampft. Dass das Wasser abrupt seinen Aggregatszustand ändert, muss sich aus dem Interagieren der Moleküle ergeben. Weil die Moleküle so komplex sind, erklärt man diese Phänomene ebenfalls mit Wahrscheinlichkeitstheorie. Seit Jahrzehnten etabliert ist diese mathematische Modellierung bei festen Strukturen, in denen sich die Moleküle an festen Orten befinden. Ein Beispiel dafür ist die Magnetisierung von Metall. Ich bin Spezialist für Systeme, wo die Orte der Moleküle zufällig sind, wie in Flüssigkeiten.
Welche Rolle spielt Wissenschaftskommunikation bei Ihrer Arbeit?
Ich bin in den letzten Jahren recht aktiv gewesen mit Vorträgen für ein nichtwissenschaftliches Publikum, zum Beispiel beim „Tag der Mathematik“ oder bei der „Nacht der Wissenschaften“ in Berlin. Wir Mathematiker haben ja oft das Problem, dass unsere Forschung nicht ganz so einfach zu kommunizieren ist. Als angewandter Mathematiker bin ich in der Situation, dass ich mich in meiner Forschung mit vielen Dingen beschäftige, die man ganz gut beschreiben kann. Und da mir das sehr am Herzen liegt, möchte ich das in Zukunft auch gerne weitermachen.
Was macht für Sie gute Lehre aus?
Gute Lehre hat ganz viele Aspekte: Ich möchte die Leute mitnehmen und würde gerne einen Beitrag zum Schließen des Gender-Gaps leisten, was in der Mathematik ein großes Thema ist. Gute Lehre schafft die Brücke, um die Studierenden abzuholen und zu begeistern, aber auch auf einen Abschluss und die berufliche Karriere vorzubereiten. Als Mathematiker haben wir die Chance, eine Denkweise zu schulen. Dass man Voraussetzungen klar benennt und die Folgerungen transparent macht. Mathematik ist auch eine Schule des Denkens. Mathematiker sind durchaus gefragte Absolventen, weil mit dem Fach eine gewisse Haltung und Denkweise verbunden ist.
In wenigen Wochen startet die Vorlesungszeit des Sommersemesters 2022. Was möchten Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?
Ich wünsche mir, dass sich die Studierenden von den Rahmenbedingungen in der Pandemie nicht abschrecken lassen, sondern im Auge behalten, was sie gerne machen würden. Dass sie unvoreingenommen in die Mathevorlesungen starten, sich überraschen und begeistern lassen von den Objekten, die ich ihnen in meinen Vorlesungen präsentiere. Dass sie offen sind für die Schönheit der Theorie und ihrer Anwendung.