12. Juli 2019 | Magazin:

Der Brückenprofessor Christian Kehrt forscht und lehrt an den Schnittstellen von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft

Seit vier Jahren ist Christian Kehrt als Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Braunschweig tätig. Ziel seiner Professur ist ein historisches Ver­ständnis der modernen, technisch geprägten Kultur zu vermitteln. Dazu gehört auch, die Einsicht zu stärken, dass Wissenschaft, Technik und Gesellschaft untrennbar miteinander verwoben sind. Woran er gerade forscht, wie er seine Themen findet und welche interdisziplinären Potenziale die TU Braunschweig bietet, darüber berichtet er im Interview.

Christian Kehrt ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Braunschweig. Bildnachweis: Ivo Mayer

Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich in der Wissenschafts- und Technikgeschichte?

Die Geschichte der Luft- und Weltraumfahrt ist sicherlich eines meiner Hauptarbeitsgebiete, das ich auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene verfolge. In meiner Dissertation, zum Beispiel, ging es um Mensch-Maschine-Inter­aktionen von Piloten im Zeitalter der Weltkriege. Aktuell verfolge ich diese Fragestellung in Bezug auf die Rolle automatisierter Flugsteuerungen und die Einführung des Computers im Cockpit in den 1970er- und 1980er-Jahren. Aber auch die Rolle der Luftfahrtforschung im Dritten Reich hier in Braunschweig-Völkenrode oder die Geschichte des ehemaligen NS-Raktenforschungszentrums Peenemünde sind wichtige Themen.

Ein zweiter Schwerpunkt in Forschung und Lehre liegt in der Schnittstelle von Wissenschaft, Technik und Umwelt. Thematisch arbeite ich hier zur Geschichte der Polar- und Meeresforschung in Kooperation mit dem in Bremerhaven angesiedelten Deutschen Schifffahrtsmuseum und dem Alfred-Wegener-Institut. Die Frage, welche politische und gesellschaftliche Rolle Ressourcen und Rohstoffe wie Fische und Krill, aber auch Erdöl und Gas, seit den 1970er-Jahren bis heute spielen, sind Gegenstand meiner aktuellen Forschung auf diesem Gebiet.

Wo ist der Punkt erreicht, dass Sie sich genau mit diesem einen Thema wissenschaftlich beschäftigen möchten? Gibt es so etwas?

Eine gewisse kritische Distanz zu meinen Forschungsgegenständen ist mir wichtig, so dass die Themenfindung selbst sich bislang nicht aus meiner Biografie erklärt, sondern durch neu entstehende, meist transdisziplinäre Forschungsfelder. Die Frage nach der subjektiven Erfahrung von Technik und Krieg durch Militärpiloten entstand beispielsweise im Zuge einer sich neu formierenden Kulturgeschichte von Technik und Krieg. Auch die Wahrnehmung fragiler Umwelten im hochtechnisierten Zeitalter des Kalten Krieges basierte auf neuen Fragestellungen des jungen Feldes Umweltgeschichte. So habe ich ein gewisses Faible für fächerübergreifende Nischenthemen, die jedoch Einsicht in Grundfragen von Geschichte und Gesellschaft geben, wie etwa die Technisierung des Krieges oder eine zunehmend stärker technisierte Umwelt.

Um hierzu wissenschaftlich fundierte Antworten zu geben, ist es erforderlich, konkrete Akteure oder Artefakte genauer in den Blick zu nehmen. An diesem Punkt bleibe ich im Kern Historiker, der seine Aussagen aus einer gesicherten Archiv- und Quellenlage ableitet. Das ist im Feld der Wissenschafts-, Technik- und Umweltgeschichte allerdings nicht immer ganz einfach, da hier die Dinge nicht immer schriftlich fixiert und selten über längere Zeiträume aufbewahrt werden.

Sie haben eine Art Schnittstellenprofessur inne. Worauf zielt sie ab und wie positioniert Ihr Institut dieses Anliegen an der TU Braunschweig?

Technische Uni­versitäten haben ein enormes Potenzial für die große inter­disziplinäre Ko­operation. Die Professur für Wissenschafts- und Technikgeschichte verstehe ich dabei als eine wichtige Brückenprofessur, die interdisziplinäre Angebote sowohl für die Natur- und Technikwissenschaften als auch die Kultur- und Geisteswissenschaftlichen Fächer entwickelt und in Forschung und Lehre umsetzt.

Besonders enge Kontakte besehen hier zur Luft- und Weltraumfahrt, aber auch zur Architektur- und Stadtgeschichte, sowie der Nanotechnologie sowie zu Kolleginnen und Kollegen aus anderen kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die ebenfalls an der Baustelle Technik mitarbeiten. Hierzu zählt insbesondere die Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte (Bettina Wahrig), die Technikphilospohie (Nicole Karafyllis), die Gender Studies sowie die Science and Technology Studies (Corinna Bath). Hier hat die TU Braunschweig zusammen mit den Professuren für Anglistik und Germanistik ein enormes interdisziplinäres Potenzial, wenn es um die Schnittstelle von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft geht.

Sie engagieren sich für den vergleichsweise noch recht jungen Studiengang KTW. Dort werden „Mittler zwischen den Kulturen“ ausgebildet. Wie möchten Sie das erreichen?

Ich finde, so jung ist der 2006 gegründete Studiengang „Kultur der Technisch-Wissenschaftlichen Welt“ (KTW) gar nicht, und man muss sagen, dass dessen dezidiert interdisziplinäre Orientierung sehr wegweisend war und ist. Dies zeigt sich auch daran, dass aktuell vergleichbare Masterstudiengänge an der TU München und der TU Berlin eingerichtet werden. Im Rahmen des interdisziplinären Studienganges biete ich jedes Semester Vorlesungen und Seminare für Studierende der Geisteswissenschaften und der Technikwissenschaften an, insbesondere zur Robotik, Digitalisierung und Computergeschichte, um aktuelle Themenfelder zu diskutieren und auch in Masterarbeiten dann genauer zu untersuchen.

Zudem habe ich gemeinsam mit Bettina Wahrig und Kolleginnen aus dem KTW ein Lehr-Transferprojekt eingeworben, um für den KTW neue, inter- und transdisziplinäre Einführungsmodule zu entwickeln, die die Science and Technology Studies für verschiedene Fächerkulturen zugänglich machen sollen.

Sie arbeiten gerade u.a. an „Meta-Peenemünde – Das Bild der rüstungstechnischen Versuchsanstalten im kulturellen Gedächtnis“. Das Projekt verbindet Vergangenheit und Gegenwart. Was ist die Herausforderung dabei?

Gemeinsam mit dem Historisch-Technischen Museum Peenemünde leite ich aktuell ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Drittmittelprojekt im Rahmen des Programmes „Forschung in Museen“. Hier werden erstmals Fragen der Erinnerung an ehemalige Vernichtungs­waffen behandelt und Narrative des Fortschritts und der Zerstörung vom Kalten Krieg bis heute untersucht. Auch Dank der beiden Mitarbeiter Daniel Brandau und Constanze Seifert werden die Ergebnisse im Rahmen internationaler Tagungen, Publi­kationen, Lehrveranstaltungen, Exkursionen und in Fernsehen und Presse öffentlichkeitswirksam präsentiert und damit auf verschiedenen Ebenen zahl­reiche Impulse gesetzt.

Die Herausforderung ist hier erstens, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus sich stark gewandelt hat und insbesondere jüngere Generationen keinen direkten Bezug mehr zu dieser Thematik haben. Diese erinnerungshistorische Konstellation stellt eine große Herausforderung für die Museumsarbeit und Geschichtsvermittlung dar. Eine weitere technikspezifische Problematik ergibt sich durch den Gegenstand der Raketentechnologie, die im Falle Peenemündes sowohl Fortschritt als auch Vernichtung bedeutet und damit sicherlich eine Grundproblematik des 20. Jahrhunderts darstellt. Gerade Technikmuseen stehen hier vor der Herausforderung, ihre technischen Objekte und Erinnerungsstücke nicht technikzentriert zu präsentieren, sondern diese in den historischen Kontext einzuordnen.

Vielen Dank für das Interview.