16. Juli 2020 | Magazin:

Corona-Chroniken 2060 Germanistik-Studierende schreiben Texte aus der Zukunft

Hamsterkäufe, Herdenimmunität, Isolation, Maskenpflicht, Mindestabstand – welche Begriffe verbinden wir mit der Corona-Pandemie? Welche bleiben in Erinnerung? Und wie werden wir in 30, 40 Jahren über diese Krise berichten? Im Germanistik-Seminar „Diskurse und Narrative der Pest“ von Professorin Regina Toepfer, Abteilung Linguistik und Mediävistik der Technischen Universität Braunschweig, haben Studierende einen Blick ins Jahr 2060 gewagt und in eigenen Texten auf die Pandemie zurückgeblickt.

Auch der Dionysos auf dem Universitätsplatz der TU Braunschweig trägt Maske. Bildnachweis: Bianca Loschinsky/TU Braunschweig

„Heute, vor 40 Jahren herrschte Maskenpflicht in Deutschland. Doch kaum einer spricht mehr über dieses Thema. Kein Wunder – die einen sind schon tot, die anderen haben damals noch nicht gelebt und wieder anderen quillte das gemeinte Thema 2020 schon aus den Ohren raus: CORONA.“ So beginnt die Studentin Valeria Löwen ihren satirischen Beitrag „Wie wir Corona überlebten, auch wenn ein großer Teil der Bevölkerung bekloppt spielte“. Ganz verschiedene Formate haben die Germanistik-Studierenden für ihre Rückblicke aus der Zukunft gewählt: Interviews, Tagebucheinträge, Kurzgeschichten, Gedichte oder auch eine Fernsehsendung.

Willkommen beim Jahresrückblick Spezial! Heute reisen wir gemeinsam mit Ihnen in verschiedene Zeitalter zurück, um die 10 Ereignisse, die die verschiedenen Jahre prägten, noch einmal aufleben zu lassen. (…)
Platz 1: Toilettenpapier Challenges! Ob als Torte oder als Parcourshindernis für Haustiere, das weiße Gold aus dem Jahr 2020 bleibt allen in Erinnerung!
(von Franziska Kielpinski)

Gaben Einblicke in ihr Germanistik-Seminar: Prof. Regina Toepfer, Anna Wandschneider, Jana Lücke und Tristan Buhmann. Bildnachweis: Prof. Regina Toepfer/TU Braunschweig

Aus aktuellem Anlass hatte Professorin Toepfer vom Institut für Germanistik zu Beginn des Sommersemesters – in Absprache mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern – das Thema ihres Seminars gewechselt. Ursprünglich geplant waren „Diskurse der Un/fruchtbarkeit im Mittelalter“.  Jetzt geht es um die Pest aus kulturhistorischer Perspektive. „Es ist hilfreich, eine historische Distanz aufzubauen und sich so mit der Gegenwart auseinanderzusetzen“, sagt Professorin Toepfer. Auf dem Programm stehen sowohl religiöse, medizinische und literarische Interpretationen als auch Fragen der Schuld, Sündenbockmechanismen und mediale Inszenierungen, verschiedene literarische Perspektiven, wie Sophokles’ „König Ödipus“, Boccaccios „Decameron“, Poes „Die Maske des roten Todes“, aber auch Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation. Mittendrin in der Pandemie und doch aus der Beobachter-Perspektive näherten sich die Studierenden historischen Diskursen und Narrativen und verglichen sie mit heutigen, zum Beispiel einen Holzschnitt in frühneuzeitlicher Pestliteratur mit dem Foto einer Zeitung, auf dem Kinder mit Mund-Nasenschutz bei der Wiederöffnung einer Schule zu sehen sind.

Pestfahnen dieser Art wurden an Eingängen von Häuserns angebracht, die Seuchenkranke beherbergten. (Pestfahne, Deutschland, 18. Jahrhundert. Ca. 33 x 45 cm. Freundliche Leihgabe von Antiquariat Rolf Schwing, Heidelberg. ). Bildnachweis: Herzog August Bibliothek WolfenbüttelIn zwei Seminar-Sitzungen setzten sich die Studierenden mit  frühneuzeitlichen Pestbüchlein auseinander – mit Braunschweig-Bezug: Heinrich Steinhöwels „Pestbüchlein“ und Lorenz Gieselers „Anweisung“ für Braunschweig. Dabei entdeckten die Studentinnen und Studenten erstaunliche Parallelen zu den heutigen Quarantäne-Maßnahmen. Der Braunschweiger Stadtphysikus Lorenz Gieseler, ein Befürworter der Isolierung, schreibt 1680: „Daß ganze Städte/ darin die Pest ist/ verschlossen bleiben/ biß die gantze vorbey/ ist löblich und gut/ ein Exempel haben wir bey und an uns selber/ denn wären wir Anno 1657 nicht occludirt worden/ hätte das malum sich leicht über das gantze Land gezogen (…). Wenn die Leute durch Gottes Gnade genesen/ müssen sie nicht flugs wieder unter die Gesunde gehen/ sondern 6. Wochen sich noch inne halten/ und solche Zeiten wird genennet Quarantena.“ Bereits im 17. Jahrhundert wurden Braunschweiger Bürger also wegen einer Epidemie unter Quarantäne gestellt. Und auch damals waren die sozialen Auswirkungen sehr umstritten.

Wie können wir zusammenkommen ohne zusammenzukommen?
Wie weit können demokratische Prozesse in einer Krise eingeschränkt werden?
Was bedeutet Öffentlichkeit?
Wie viele Kartoffeln isst ein Deutscher in einem Jahr?
Wie verwundbar ist Europa?
Wie schnell vollziehen sich nationalistische Prozesse?
Wie selbstverständlich ist das Reisen gewesen?
(von Klara Patermann)

Kleidung eines Pestarztes. Jean-Jacques Manget: Traité De La Peste. Recueilli, Des Meilleurs Auteurs Anciens & Modernes. Genf: Planche 1721. Bildnachweis: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

„Die Hilflosigkeit und Angst, die man am Beginn der Pandemie hier in der Bevölkerung stark gespürt hat, wurde auch in den ausgewählten Seminar-Texten deutlich“, sagt Jana Lücke. „Da man gerade selbst ähnlich betroffen ist, hat man auch einen emotionaleren Zugang zu den historischen Berichten und Erzählungen über die Pest“, ergänzt Anna Wandschneider. Parallelen sieht Tristan Buhmann im  Vergleich der Verschwörungstheorien: „Es wird immer nach dem Schuldigen gesucht.“ Wurden früher oftmals Menschen jüdischen Glaubens oder Frauen, die als Hexen galten, für Seuchen und Krankheiten verantwortlich gemacht, sind es heute unter anderem Bürgerinnen und Bürger mit asiatischem Aussehen, die wegen des Coronavirus diskriminiert werden.

Neben frühneuzeitlichen Beschreibungen beschäftigten sich die Studierenden mit Albert Camus‘ „Die Pest“ aus dem Jahr 1947. Für Tristan Buhmann werden in diesem Werk mit „erschreckender Genauigkeit“ die Auswirkungen einer Quarantäne beschrieben: „Eine Situation, die ich vorher so noch nie erlebt hatte.“

Neubeginn
Eine Lungenpest lehrt uns atmen
Inmitten von endlosen Reisen, vom Kreisen um Geld, um Macht, um die nächste Nacht im Büro auf einmal:
Nullstunde.
(von Ronja Linke)

In ihren eigenen Texten reflektieren die Studierenden vormoderne und heutige Verschwörungstheorien und beschreiben im Interview die Eindrücke einer Verkäuferin, in einer Kurzgeschichte die Erinnerungen des Großvaters an die Corona-Krise oder auch der verklärte Rückblick einer alten Frau. Es geht um Masken, natürlich auch um Toilettenpapier und Nudeln, um nachbarschaftliche Hilfe und Solidarität, um Einschränkungen, das Gefühl von Unsicherheit und viele Fragen, die offen bleiben. Teilweise sind die Beiträge düster, apokalyptisch, aber auch sarkastisch, ironisierend oder auch sachlich-distanziert. „In der Literatur kann man experimentieren, welchen Unterschied es macht, auf die eine oder andere Weise zu erzählen“, sagt Professorin Toepfer. Keine leichte Aufgabe für die Studierenden. Mehrere Versionen ihres Textes hat Jana Lücke geschrieben, hat überlegt, welche Veränderungen diese Krise mit sich bringt. „Man hat ein sehr subjektives Bild von der Pandemie und weiß nicht, wie sich die Zukunft entwickelt.“

O: Ich habe damals auch gestaunt, was technisch alles möglich ist, da mein Studium während der Krise komplett über Videochats und ähnliches möglich war. Das findest du jetzt bestimmt lustig, ihr habt ja heute schon viel neuere Technik.
L: „Videochats? Das ist doch ganz normal zum Lernen…“
(von Jana Lücke)

„Es gibt nicht nur einen Narrativ, sondern multiperspektivische Zugriffe auf das Thema“, betont Anna Wandschneider. Verschiedene Perspektiven auf die Krise bringt sie auch in ihrer Geschichte „Regentag mit Parzen“ ein,  die zum Teil in der realen, zum Teil ein in der virtuellen Welt spielt.  Eine Dystopie, die Endzeitstimmung vermittelt und in ihren Bildern an Science-Fiction erinnert.

Ich habe diese Zeit geliebt. Corona heißt Heiligenschein, und für mich war es tatsächlich wie ein ewiger, heiliger Sonntag. Ich musste nicht zur Arbeit, keine von Kinderhänden gehetzt zusammengeschluderten Shirts an gehetzte Bandarbeiter verkaufen. Ich konnte mich endlich mit mir selbst beschäftigen. Frei atmen.
(von Anna Wandschneider)