6. Oktober 2020 | Magazin:

Bot or not? Die Auswirkungen von Automation auf Literatur und Musik

Sprachgeneratoren, die ganze Texte schreiben, Künstliche Intelligenzen, die Musikalben auf Knopfdruck komponieren, Avatare von Autorinnen und Autoren, Musikerinnen und Musikern auf der Bühne. Welche Auswirkungen hat digitale Technologie auf Musik und Literatur? Wie verändert es Kunstschaffende und ihr Verständnis? Das interdisziplinäre Forschungsprojekt Von der Avantgarde zum Algorithmus: Automatisierte Kreativität in Literatur und Musik” fragt, welche sozialen, kulturellen und ästhetischen Veränderungen der Einsatz von Algorithmen und Deep-Learning-Applikationen in Musik und Literatur bewirken. Bianca Loschinsky hat mit Professor Eckart Voigts vom Institut für Anglistik und Amerikanistik und Doktorand Robin Auer über automatisierte Kreativität und die „Echtheit“ von Kunst gesprochen.

Bei BOT or NOT im Haus der Wissenschaft traten Poetry Slammerinnen und Poetry Slammer gegen einen BOT an. Das Publikum musste entscheiden, welches Gedicht künstlich und welches menschlich erschaffen wurde. Das Foto entstand vor der Corona-Pandemie. Bildnachweis: Philipp Ziebart/Haus der Wissenschaft

Herr Professor Voigts, Herr Auer, lässt sich menschliche Kreativität automatisieren?

Prof. Voigts: Kreativität lässt sich hervorragend simulieren! An der Textoberfläche wird es irgendwann ununterscheidbar, ob ein Mensch oder eine Maschine einen Artikel oder ein Gedicht geschrieben hat. Man liest den Artikel durch und es stimmt alles, die Syntax, die ganze linguistische Gestaltung ist perfekt menschlich. Auch die Inhalte sind inzwischen so, dass man denken könnte, dass eine Redakteurin oder ein Redakteur dahinter sitzt. Gerade wenn zusätzlich Menschen im Hintergrund daran feilen, können Maschinentexte sehr authentisch wirken. Die Maschine kann jedoch nicht originell sein. Sie ist ein Apparat, der aus großen Datenmengen gefüttert wird und Daten plausibel neu kombiniert. 

Jetzt könnte man natürlich sagen, dass jede Art von Kreativität in diese Richtung geht. In der literarischen Kreativität gibt es das Intertextualität-Paradigma, das besagt, dass im Grunde nichts Neues entsteht, sondern Texte bereits existierende Texte rekombinieren. 

Es gibt Maschinen, die bereits bei Literaturwettbewerben Preise gewonnen haben. Schon 2016 lief der Kurzfilm „Sunspring“, der vollständig von einer Künstlichen Intelligenz unter Verwendung neuronaler Netze geschrieben wurde, auf einem Filmfestival. Dafür wurde ein neuronales Netzwerk mit einem Korpus von Science-Fiction und Superhelden-Drehbüchern gefüttert. Allerdings sind die Dialoge, die dort geführt werden, noch nicht besonders plausibel, da die Figuren nicht wirklich aufeinander reagieren. 

Professor Eckart Voigts. Sein Foto wurde durch ein KI-Programm farbenfroh entfremdet. Bildnachweis: Florian Bült/TU Braunschweig

Wir schauen uns in unserem Forschungsprojekt verschiedene Beispiele an und fragen uns genau das, was ist denn daran eigentlich kreativ? Was ist literarische Kreativität? Nehmen wir mal Paul Celans „Schwarze Milch der Frühe“ in seinem Gedicht „Todesfuge“: Natürlich denkt man, das ist Literatur, weil die Metapher ungewöhnlich ist. Der Text hat eine Differenzqualität, die in der Entfremdung besteht. Die Sprache wird fremd und dadurch wird sie interessant. Das ist ein strukturalistisches Kriterium für Literatur. 

Ein schlechtes Language Model würde vielleicht zufällig auch eine solche Metapher kreieren, natürlich anders als Celan unbewusst. Oder wenn die AI nur mit solchen Metaphern gefüttert ist, würde sie auch vielleicht wieder solche Metaphern ausspucken. Die Zielstellung ist ja ganz klar, die Entfremdung auszuschließen und Texte herzustellen, die die Konvention genau erfüllen. Wenn aber das Literarische im Konventionsbruch besteht, dann ist ein schlechtes Language Model im literarischen Sinne besser als ein gutes. 

Robin Auer: Bestimmte Teile von Kreativitätsprozessen können wir auslagern. Für den kürzlich veröffentlichten Guardian-Artikel „A robot wrote this entire article. Are you scared yet, human?“ ließen die Redakteurinnen und Redakteure den Textgenerator GPT-3 mehrere Essays schreiben, aus denen sie die besten Passagen nahmen und neu zusammenfügten. Maschinen können also unterschiedliche Teilprozesse kompetent realisieren, aber für andere Aufgaben benötigen wir aktuell noch den Menschen oder zumindest eine weitere Maschine, die komplementäre Aufgaben erledigt. Dann kommt man in Bereiche, in denen uns künstliche Kreativität plötzlich ganz neue Möglichkeiten eröffnen kann. Zu diesen Fragestellungen arbeite ich auch in meiner Promotion am Institut für Anglistik und Amerikanistik.

Das heißt also, bestimmte automatisierte Aufgaben können Teil der Kreativitätsprozesse sein, aber keine eigene Kreativität?

Prof. Voigts: Wenn man es ganz stark konstruktivistisch denkt, dann entsteht Kreativität im literarischen Feld sowieso immer nur beim Rezipierenden. Das ist also nur eine Zuschreibung von Kreativität. Von einem literarischen Text erwartet man, dass er noch etwas Zusätzliches zu einem Gebrauchstext hervorbringt. Das ist häufig eine Normabweichung oder ein besonders geschickter Plot. Kleine Einheiten können die Maschinen schon gut produzieren, aber „Krieg und Frieden“ würden sie wohl noch nicht so einfach hinbekommen. Dennoch: Maschinen können schon für eine Serie wie „Game of Thrones“ vorhersagen, was typische, erfolgversprechende weitere Plots und Storylines sein könnten. Solche Maschinenprognosen sind natürlich reizvoll für die Macher, weil sie ihr Risiko minimieren können. 

Wenn etwas konventionell ist, kann die Maschine gut damit umgehen, weil die Parameter klar sind. Wenn aber etwas nicht konventionell ist, dann kann die Maschine nur interessante Dinge gestalten, wenn sie es nicht richtig beherrscht.

Aber würde es dann nicht erst richtig interessant, wenn nicht eine menschliche Kreativität simuliert wird, sondern wenn es darüber hinausgeht, also eine maschinelle Kreativität entsteht?

Robin Auer, nachdem sein Foto durch ein KI-Programm entfremdet wurde. Bildnachweis: Institut für Anglistik und Amerikanistik/TU Braunschweig

Prof. Voigts: Ja, ich würde sagen, das ist das große Faszinosum, wenn man sich die Erzählungen ansieht, die sich mit Künstlicher Intelligenz seit Jahrhunderten befassen. Hier gibt es immer diesen Moment, in dem die Autonomie des Roboters erkennbar wird, die Loslösung vom Menschen. Es gibt gerade jetzt wieder einige Filme und Romane, die sich damit beschäftigen, zum Beispiel Ian McEwans „Maschinen wie ich“ und Jeanette Wintersons „Frankissstein“, in denen genau das skizziert wird. Das menschliche Ideal wird in nichtmenschliche Akteure verlegt. Damit sind sehr viele Ängste verbunden, die Angst ersetzt zu werden, die Angst von dem anderen beschädigt zu werden, also letzten Endes die Angst vor dem anderen. 

Robin Auer: Das ist das Narrativ, das vor allem aus der Science Fiction bekannt ist, jedoch aktueller wird es mit dem, was KI inzwischen leisten kann. Es gibt auch im wissenschaftlichen Kontext nur sehr wenige, die die Maschinen im wirklich autonomen Sinne ernst nehmen. Mir sind bislang nur wenige Artikel begegnet, in denen die Autorinnen und Autoren sagen: Wenn wir wirklich kreative Maschinen haben wollen, dann müssen wir ihnen auch zugestehen, sich als Maschine auszudrücken. Denn: Wie können wir die Maschinen dazu bringen auszudrücken, was es überhaupt heißt, eine Maschine zu sein? Benötigt man dafür ein Bewusstsein?

Müssen wir jetzt immer hinterfragen, ob Texte echt sind, also menschengemacht? Oder ist diese „Echtheit“ unwichtig?

Prof. Voigts: Literarische oder auch filmische Kommunikation funktioniert immer in diesem Geflecht von Rezipierenden, Produzierenden und Text oder Film. Und das alles in einem bestimmten sozialen Kontext. Wenn wir an Literatur denken, denken wir natürlich nicht nur an ein Buch, sondern an alle Bestandteile. Wir erwarten, dass etwas Echtes dahinter steht und dass der Autor oder die Autorin nicht irgendwo abgeschrieben hat.

Die Rolle der Autorschaft kann ein Language Model nur sehr schlecht ausfüllen. Wenn man weiß, was GPT-3 ist, fehlt einem doch sehr viel, was wir bei einer literarischen Kommunikation erwarten. Da brauchen wir einen Mythos, vielleicht Autorinnen und Autoren, die hunderte Liebschaften unterhielten, zehn Jahre unter Bären gelebt oder sich mit 27 umgebracht haben, damit die Texte für das Publikum zusätzlich faszinierend werden. 

Bei maschinengemachten Texten ist es deshalb wichtig, darüber aufzuklären, von wem dieser stammt. Wie in dem Guardian-Artikel geschehen. Es wird also wichtiger zu erläutern, welche Prozesse zu diesem Text geführt haben.

Viele Formen kreativer Prozesse benötigen eine Verkörperung. Bei Kraftwerk sind es die vier humanoiden Figuren auf der Bühne, bei Janelle Monáe ist es das Androide als Gegenmodell zum binären Heterosexuellen, bei  Bruce Springsteen ist die verkörperte Männlichkeit auf der Bühne wichtig. Insofern braucht auch eine Maschine eine gewisse Verkörperung, zum Beispiel bei Lesungen. Doch welche Modelle der Verkörperung gibt es bei KI? Welche Ideale werden durch den Roboter verkörpert? 

Für „Uncanny Valley“ des Künstlerkollektivs Rimini-Protokoll hat der Schriftsteller Thomas Melle einen Avatar von sich erstellen lassen, der auf der Bühne sitzt und einen Vortrag über die Erstellung seines Körperdoubles hält. Er sagt provozierend, der wirkliche Mensch Thomas Melle leide unter einen bipolaren Störung, deshalb lasse er sich auf der Bühne durch die Maschine ersetzen.

Welche Chancen bietet die Automation für Literatur und Musik?

Prof. Voigts: Alle Aufgaben, die automatisierbar sind, werden einfacher. Aber es wird natürlich auch sehr viel einfacher zu täuschen. Und das ist ein Risiko. Das GPT-2 Language Model wurde zunächst nicht veröffentlicht, weil die Gefahr gesehen wurde, dass Identitäten einfach fingiert werden können. Das verbindet man mit einem Bot: eine fingierte Menschlichkeit oder eine fingierte politische Haltung, die Menschen zugeschrieben wird, die jedoch automatisiert ist.

Eine Ästhetik beruht auch immer auf dem Nicht-Einfachen, dem Komplexen oder auch der Qual, kann man fast sagen. Wenn man literarische Kommunikation denkt, dann geht es unter anderem auch um das Enorme des Schreibakts. Wenn ich aber weiß, das spuckt so eine Maschine in drei Sekunden aus, dann entwertet es den Text, wenn man nicht diese literarische Kommunikation mitdenkt. 

Robin Auer: Die Automation eröffnet auch Chancen, jedoch hauptsächlich für alle, die Literatur in erster Linie als Konsumgut begreifen. Wenn Prozesse einfacher werden, können Verlage bestimmte Buchreihen, die gut ankommen, von einem Bot weiterschreiben lassen. So kann viel mehr in viel kürzerer Zeit produziert werden. Die üblichen Chancen von Automatisierung liegen in Gewinnmaximierung und Monetarisierung. Aber man könnte auch individueller produzieren. So etwas funktioniert ja bereits zum Beispiel auf Spotify, wo dem Nutzer neue Songs vorgeschlagen werden, die zu dem, was man bisher angehört hat, passen. Das kann man weitertreiben, indem zielgerichtet Texte auf Basis meines Lesegeschmacks geschrieben werden. Natürlich birgt dies große Risiken, wenn man Social Media betrachtet, wo den Nutzern heute schon nur ein kleiner Nachrichten-Ausschnitt präsentiert wird, zugeschnitten auf die eigene Meinung.

Wie können Tools der Automation von Kunstschaffenden kreativ genutzt werden?

Prof. Voigts: Es gibt Autorinnen und Autoren, die mit den Tools kreativ umgehen, indem sie sie für ihre Zwecke einsetzen, so dass es reizvoll wird und anders. Um ein Beispiel zu nennen: Code Poetry. Das ist eine Art von Lyrik, die einerseits als Lyrik lesbar ist, aber gleichzeitig auch ein maschinenlesbarer Code. Wie häufig im Fall von Kreativität liegt der Reiz in einem erschwerenden Element. Im Roman „Megawatt“ hat Autor und Programmierer Nick Montfort Passagen aus Samuel Becketts „Watt“ ausgelesen, ließ diese maschinell simulieren und neu kombinieren. 

Ein weiteres Beispiel ist Hans Magnus Enzensbergers Poesieautomat oder poem.exe: ein Bot, der haiku-ähnliche Gedichte zusammenstellt und sie auf Twitter veröffentlicht.

Diese automatisierten Elemente sind also eine Art von Kunsttechnik. Keine Video-Art ohne Videotechnik, keine Code-Poetry ohne Computercode. Jedes Tool generiert auch den eigenen ästhetischen Zugang.