Auf Sicht segeln – und die Belegschaft mitnehmen Professorin Simone Kauffeld zählt zu den „40 führenden HR-Köpfen 2019“
Digitalisierung, Technologiefortschritt und Change-Management: Die Arbeitswelt ist im permanenten Umbruch. Immer gefragter dabei: Die Psychologie und ihr Arbeitsfeld Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie. Eine der führenden Expertinnen auf dem Gebiet der Human Resources (kurz HR), also der Menschen hinter dem Unternehmenserfolg oder -misserfolg, ist Professorin Dr. Simone Kauffeld. Die Psychologin wurde am 11. Juli 2019 vom „Personalmagazin“ unter die „40 führenden HR-Köpfe“ gewählt. Wir haben mit ihr über ihr Forschungsfeld gesprochen.
Frau Professorin Kauffeld, wir haben den Eindruck, dass die Themen Arbeitsorganisation und Organisationspsychologie an Bedeutung und öffentlicher Wahrnehmung gewinnen in den letzten Jahren. Sie sind ja selbst als Expertin in Print, TV und digitalen Medien sehr gefragt. War Arbeiten früher tatsächlich anders und wird Arbeiten komplizierter? Warum rückt das so in den Fokus?
Ja, die Arbeit verändert sich in vielen Bereichen. In vielen Unternehmen sind Veränderungen an der Tagesordnung. Veränderungen passieren »von jetzt auf gleich« und deuten sich nicht mehr allmählich an. Dadurch entsteht ein Zustand der Instabilität, Unberechenbarkeit und Unvorhersagbarkeit. Aufgrund der Kurzfristigkeit von Veränderungen müssen Unternehmen Spielräume wahren, um jederzeit agil und flexibel auf Entwicklungen reagieren zu können. Zukünftige Entwicklungen sind zunehmend unklar. Klare Vorhersagen oder Prognosen sind oft nicht mehr möglich. Aufgrund der hohen Ungewissheit ist einerseits eine konstruktive Fehlerkultur notwendig, andererseits ist eine Arbeitsweise notwendig, die durch ein Vorgehen in kleinen, flexiblen Schritten gekennzeichnet ist. Dabei kommunizieren nicht nur Menschen – beruflich wie privat – über digitale Instrumente wie Smartphones und Tablets miteinander, auch Produkte und Maschinen werden zunehmend miteinander vernetzt und kommunizieren in Echtzeit. Diese Integration und Vernetzung führt zu völlig neuen Organisationsstrukturen, Produktionssteuerungen und Arbeitsweisen von Menschen. Beschäftigte zeigen veränderte Ansprüche an die Arbeit bezogen auf die Arbeitsplatzgestaltung, flexible Arbeitszeiten und Teamarbeit.
Die Arbeits- und Organisationspsychologie beschäftigt sich mit diesen Themen, analysiert die Zusammenarbeit und bietet Lösungsansätze in Form von Interventionen und der Gestaltung von Prozessen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten sehr gut geforscht und sind methodisch auf einem hohen Niveau. In Braunschweig zeichnet uns besonders aus, dass wir unser Wissen auch in IT-Tools umsetzen können.
Was sind das für Tools?
Wir arbeiten zum Beispiel mit Praxispartnern in einem mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds geförderten Projekt, in dem wir ein Gesundheitstool aufsetzen, mit dem wir analysieren, unter welchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten. Wir können ihnen gleichzeitig Hinweise geben, welche Maßnahmen sie ergreifen können, um diese abzubauen. Parallel ist das Tool so aufgebaut, dass man Daten für Führungskräfte oder für die Personalabteilung aggregieren kann, die Hinweise geben, wie sie die Arbeitsverhältnisse zum Besseren verändern können. Und das alles sehr schnell. Während wir im Moment bei vielen Unternehmen die Situation vorfinden, dass Analysen durchgeführt werden, die wiederum einem Gremium zugeführt werden, das für viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ewig braucht, um die Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen und interpretieren zu können. So können Prozesse in Unternehmen vor sich hin dümpeln und ruckzuck sind zwei Jahre vergangen und bei den Beschäftigten ist überhaupt nichts passiert. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, entwickeln wir ein Tool, das individuell direkte Handlungsempfehlungen ermöglicht. Wir setzen generell sehr stark darauf psychologische Expertise in digitale Tools einfließen zu lassen. Andere Beispiele sind die Personal-Online-Diagnostik, das Personalmarketing über zum Beispiel online-gestützte Self-Assessements – an der TU Braunschweig können Studieninteressierte über fit4TU zum Beispiel testen, welcher Studiengang zu Ihnen passt –, die Teamdiagnostik, die Dashboard Entwicklung, in der Kennzahlen des Unternehmens für verschiedene Zielgruppen adäquat abgebildet werden, oder das Kompetenzmanagement. In Großunternehmen wurde schon Ende der Neunziger mit dem Thema Kompetenzmanagement begonnen – oft verbunden mit dem Aufsetzen jahrelanger IT-Projekte mit hunderten von IT-lern, die hier entwickeln. Wir haben vielversprechende Lösungsansätze heruntergebrochen für ein einzelnes Team, einen Handwerksbetrieb oder ein klein- und mittelständisches Unternehmen.
Digitalisierung und IT spielen also eine große Rolle in Ihrer Forschung. Wie viel kann man denn tatsächlich durch IT-gestützte Systeme oder Modelle abbilden und wie viel muss doch noch face-to-face geschehen?
Durch die fortschreitende Digitalisierung sind reales und digitales Leben nicht mehr einfach voneinander zu trennen, da sich die Anzahl der Kommunikationskanäle in den letzten Jahren radikal und rasant verändert hat. So erfolgt die Mediennutzung immer stärker vernetzt und parallel. Heutzutage nutzen mehr als 80 % der Beschäftigten in Deutschland in ihrer beruflichen Tätigkeit digitale Informations- und Kommunikationstechnologien und 35 % der geschäftlichen Kommunikation erfolgt über digitale Kanäle. Dadurch wird ein Status erreicht, in dem weite Teile des täglichen Lebens – im beruflichen, privaten und familiären Umfeld – von der Digitalisierung beeinflusst oder geprägt werden. Vieles lässt sich digital unterstützen, zudem bietet die Nutzung der künstlichen Intelligenz viele Möglichkeiten auch im Personalbereich. Wenn ich an die Karriere- und Laufbahn-Forschung denke, könnte man sich zum Beispiel anschauen: Wann verlassen denn viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen das Unternehmen? Und sieht beispielsweise: Viele gehen nach drei Jahren oder denken darüber nach. Und dann müsste man sich überlegen: In welcher Zeit sind Gespräche nötig, die die Hochleistenden davon abhalten, das Unternehmen zu verlassen? Oder auch in den ganz frühen Phasen: Wie kann ich Neue beim Ankommen im Unternehmen unterstützen, sodass sich die nicht unerheblichen Investitionen für Personalmarketing, Personalauswahl und die Einarbeitung auszahlen?
Digitale Tools können auch helfen, ganze Workflows zu automatisieren. Die Automatisierung erreicht nun auch die Wissensarbeit. Durch automatisierte Workflows können ganze Prozesse in der Verwaltung, in Banken und Versicherungen automatisiert werden. Ein großer Anteil von Bürotätigkeiten besteht aus dem Wiederholen von Routinen, die über Regeln und Verordnungen organisiert werden. Diese Routinen lassen sich über Workflows, die zum Beispiel Arbeits- und Organisationspsychologen aufnehmen und gestalten können, abbilden. Der Anteil von Routinen in der menschlichen Arbeit kann automatisiert werden. Entscheidungen können durch Maschinen bzw. Computer unterstützt werden. Dadurch erfordert die Digitalisierung neue und andere Tätigkeiten. Der Mensch muss Arbeitsleistung nicht mehr erbringen, sondern diese überwachen und in Notfällen und komplexen Spezialsituationen eingreifen. Beispielsweise im Bankenbereich: Ob jemand einen Kredit bekommt oder nicht, kann nach bestimmten Regeln auf der Grundlage entsprechender Kundeninformationen automatisiert entschieden werden. Erst wenn Konflikte auftreten oder die Fälle nicht eindeutig sind, kommt der Mensch ins Spiel. Für den Menschen bleiben zudem die nicht routinisierbaren Entscheidungen sowie Freiraum für kreative und innovative Aufgaben. Zudem nimmt die Bedeutung von personenbezogenen Dienstleistungen zu.
Gleichzeitig muss ich mich fragen: Wo sind die Grenzen solcher automatisierten Prozesse? Ich könnte mir auch vorstellen, dass die Führungskräfte in meinem Unternehmen mit künstlicher Intelligenz ausgewählt werden. Eine Software, die prüft, welchen Karriereweg er oder sie bislang hingelegt hat. Und die das abgleicht mit den Karrierewegen von Führungskräften, die bislang erfolgreich gewesen sind im Unternehmen. Das ließe sich in einem Modell relativ leicht abbilden. In dem Fall weiß man aber auch, dass damit ein großer Fehler vorherzusehen ist. Die KI würde kaum Frauen für Führungspositionen empfehlen, weil die bislang vorhandenen Daten das nicht hergeben. Solche Fehler muss man sich bewusst sein und ein Korrektiv in die Modelle einpflegen.
Frau Professorin Kauffeld, was sind Ihrer Meinung nach aktuell die größten Herausforderungen für Unternehmen beziehungsweise für eine erfolgreiche Unternehmens- und Arbeitskultur?
Ich glaube, die größte Herausforderung ist, sich bei prall gefüllten Auftragsbüchern in vielen Bereichen jetzt schon darüber Gedanken zu machen, wie man sich in Zukunft aufstellen möchte und möglicherweise neue Geschäftsfelder in den Blick zu nehmen. Das ist natürlich schwierig. Wir reden viel davon, dass nur noch auf Sicht gesegelt werden kann, Ziele, die Orientierung geben, müssen verändernden Bedingungen angepasst werden können. Man muss sich die Frage stellen: Wie stabil ist eigentlich das Geschäft, das ich im Moment mache? Ist es zukunftsfähig für die nächsten zwei, fünf, zehn Jahre oder darüber hinaus? Oder muss ich auf sich abzeichnende Veränderungen reagieren und weitere Standbeine aufbauen? Beispiel Automobilindustrie: Wenn stark auf Elektromobilität gesetzt wird, betrifft der Transformationsprozess nicht nur die Automobilhersteller, sondern auch die Zulieferer. Viele Zulieferteile werden bei der Umstellung nicht mehr benötigt. Unternehmen müssen sich überlegen, wo können wir mit dem, was wir können, an anderer Stelle Geschäfte generieren. Für einige könnte eine Option der Anlagenbau sein. Solche Überlegungen muss ich jetzt anstellen, wenn das Geschäft noch läuft. Und dann muss ich weiterdenken: Wie kann ich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Prozess mitnehmen? Das kann gelingen, indem ich Veränderungsbereitschaft stärke und Kompetenzen entwickelt werden. Sehr wahrscheinlich brauche ich auch kompetente Beschäftigte, die den Prozess mitdenken und mitgestalten. Auch dabei können Arbeits- und Organisationspsychologinnen und -psychologen unterstützen.