26. Juli 2019 | Magazin:

Auf dem Weg zu einer globalen Arzneimittelgeschichte: Westen und Osten treffen sich Interkulturelle Sicht auf die traditionelle ostasiatische und die europäische Medizingeschichte

Internationale und vergleichende Perspektiven zu Forschungen über Arzneimittelgeschichte und Medizingeschichte in Ostasien und Europa: 14 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus  Deutschland, Taiwan und Singapur tauschten sich im Rahmen eines Workshops an der Technischen Universität Braunschweig und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel dazu aus. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer präsentierten und diskutierten ihre laufenden Arbeiten zu Themen, die mit der Geschichte der Arzneimittel aus interkultureller Sicht zusammenhängen. Verschiedene Ansätze und Methoden der historischen Analyse wurden vorgestellt und zwischen Projekten und Kulturen verglichen. Wir sprachen mit der Organisatorin Prof. Bettina Wahrig, Abteilung für Pharmaziegeschichte, über die interkulturelle Arzneimittelgeschichte.

Wo liegen die Unterschiede und wo die Gemeinsamkeiten der ostasiatischen und westlichen Geschichte der Arzneimittel?

Ich fange mal mit den Gemeinsamkeiten an: Noch vor zweihundert Jahren war es für europäische Heilkundige selbstverständlich, dass ein bestimmtes Medikament nicht für sich allein, sondern in einem komplexen Arrangement von Begleitumständen wirkt. Die Arzneimittel waren oft sehr komplex zusammengesetzt, weil sie eine schwierige Balance herstellen mussten: Im Körper wirkten die Vorgänge in seinem Inneren – und die waren für jeden individuellen Krankheitsfall speziell – und die äußeren Bedingungen, wie etwa Klima oder Umweltbedingungen, aufeinander ein. Ähnliche Gedanken finden wir in den traditionellen Heilsystemen Süd- und Ostasiens. Außerdem gibt es in Ost und West Konzepte, denen zufolge die seelische und die körperliche Gesundheit eng zusammenhingen. Von den Kranken wurde viel Geduld gefordert, bis durch verschiedene Maßnahmen das Gleichgewicht wiederhergestellt wurde. Eigenes Verhalten spielte und spielt eine zentrale Rolle für das Gesundwerden. Die moderne westliche Medizin dagegen legt Wert darauf zu erkennen, welche spezielle Wirkung eine einzelne Substanz hat, wie die Moleküle aussehen und wo sie mit den körperlichen Substanzen interagieren. Obwohl wir heute längst wissen, dass eine kausale Therapie nicht immer der schnellste Weg zur Besserung oder Heilung ist, denken wir immer noch nach dem Muster der „Zauberkugel“, die wie durch Magie ihr Ziel stets und genau trifft.

Intrkulturelle Sicht auf die Arzneimittelgeschichte auch beim Besuch des Arzneimittelpflanzengartens der TU Braunschweig. Bildnachweis: Abteilung für Pharmaziegeschichte/TU Braunschweig

Es gibt aber auch schon in den traditionellen Heilsystemen viele Unterschiede. Zum Beispiel legt die ostasiatische Medizin großes Gewicht auf Dekokte – also Zubereitungen aus Rinden und Wurzeln durch langes Kochen. Auch die Bilder, mit denen über- und untergeordnete Prozesse in der Physiologie gesprochen wird, unterscheiden sich zwischen den Kulturen. Außerdem sind bis heute in Ostasien körperliche Maßnahmen wie Massagen, Akupunktur oder Moxibustion Standard in der Traditionellen Medizin. Ein großer Unterschied liegt auch in dem entspannten Umgang der meisten Menschen, die ich getroffen habe, mit den beiden Medizinsystemen, das heißt dem eigenen, traditionellen und dem modernen. Ob das nun die Suche nach wirksamen Stoffen in traditionellen Heilsubstanzen betrifft oder die Freiheit, die das Gesundheitssystem den Patientinnen und Patienten lässt, sich zwischen dem einen oder dem anderen System zu entscheiden.

Warum ist eine interkontinentale und überkulturelle Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Medizin- und Arzneimittelgeschichte wichtig?

Ein großer Teil des europäischen Arzneimittelschatzes der Frühen Neuzeit kam auf dem See- oder Landweg aus fernen Ländern, so aus China und Indien. Die Rolle arabischer Mediziner und Händler für die Entwicklung des Arzneimittelwissens wird heute häufig noch unterschätzt. Erst durch die Zusammenschau des Wissens in Ostasien, Arabien und Europa können wir verstehen, wie sich aufgrund der technischen und kulturellen Neuerungen in der Renaissance auch bei uns ein riesiger Wissensschatz aufgebaut hat. Häufig müssen wir noch klären, welche Substanzen die Reisenden und Händler überhaupt nach Europa brachten. Noch im 20. Jahrhundert wussten deutsche Pharmaunternehmen oft gar nicht ganz genau, welche von den Zwischenhändlern gelieferten Wurzeln sie extrahierten, um sie in neuartigen Produkten auf den europäischen Markt zu bringen.

Eine vergleichende Betrachtung verschiedener Wissensformen ist schließlich auch für die Internationalisierung unserer Universität von entscheidender Bedeutung: Unsere Studierenden können über die historischen und aktuellen Vergleiche internationale Kommilitoninnen und Kommilitonen besser verstehen, und diese können die Kulturen ihrer Herkunftsländer selbst in einen interkulturellen Dialog bringen. Eine über Kontinente hinausgreifende Arzneimittelgeschichte zeigt eines ganz deutlich: Wissen war in gewisser Weise schon immer globalisiert, aber diese Globalisierung war nie eine einfache Vereinheitlichung, und sie geschah auch nicht ohne Verwerfungen und Machtkämpfe.

Wie geht es weiter auf Ihrem Weg zu einer globalen Arzneimittelgeschichte?

Von meiner Abteilung aus forschen wir an der Geschichte der Etablierung von Kampfer und kampferhaltigen Substanzen in Europa. Die Verwendung reicht von Desinfektion über Kreislaufunterstützung und die heute allen noch bekannte Hustenmedizin bis hin zu Feuerwerk, Bombenzündern und – den ersten Filmen. Außerdem arbeiten wir an der Geschichte der Bekämpfung parasitärer Erkrankung in Taiwan und Südchina. Die Kolleginnen und Kollegen aus Taiwan erforschen zum Beispiel die Geschichte der chinesischen Engelswurz oder die Verwendung der menschlichen Plazenta als Medizin. Hier arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und Taiwan gemeinsam an den Quellen, um die interkulturellen Transfers zu verstehen. Notwendig ist der Einsatz der Digital Humanities in Form von arzneimittelhistorischen Datenbanken, um die Sprach- und Wissensbarrieren zu überwinden oder zumindest zu verkleinern.

Vielen Dank für das Gespräch.