Der Neandertaler als Künstler? Vorfahre verzierte Knochen vor über 50.000 Jahren Fund aus der Einhornhöhle in Niedersachsen wirft neues Licht auf die kognitiven Fähigkeiten der Ahnen
Seit der Entdeckung erster Fossilreste im 19. Jahrhundert hat der Neandertaler das Image eines primitiven Vormenschen. Dass er in der Lage war, effektiv Werkzeuge und Waffen herzustellen, ist lange nachgewiesen, aber konnte er auch Verzierungen, Schmuck oder gar Kunst anfertigen? Ein Forschungsteam unter Leitung des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege und der Universität Göttingen hat unter Beteiligung der TU Braunschweig einen Neufund aus der Einhornhöhle im Harz analysiert und kommt zu dem Ergebnis: Der Neandertaler, unser genetisch nächster Verwandter, hatte bereits erstaunliche kognitive Fähigkeiten. Die Ergebnisse der Studie sind in der Fachzeitschrift „Nature Ecology and Evolution“ erschienen.
Die Forscherinnen und Forscher haben in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Unicornu fossile e.V. seit 2019 neue Ausgrabungen an der Einhornhöhle im Harz durchgeführt. Erstmals gelang es so, im verstürzten Eingangsbereich der Höhle gut erhaltene Kulturschichten aus der Zeit des Neandertalers zu erschließen. Unter den erhaltenen Jagdbeuteresten hat sich ein unscheinbarer Fußknochen als Sensation herausgestellt: Nach der Entfernung des anhaftenden Erdreichs zeigte der Knochen ein winkelartiges Muster aus sechs Kerben. „Wir erkannten rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss“, sagt Grabungsleiter Dr. Dirk Leder vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. Die eingearbeiteten Kerben konnten dann in der Abteilung Holzbiologie und Holzprodukte der Universität Göttingen mit 3D-Mikroskopie analysiert werden.
Fußknochen eines Riesenhirschs
Um einen Vergleich anzustellen, führte das Team Experimente mit Fußknochen heutiger Rinder durch. Sie zeigen, dass der Knochen wohl zunächst gekocht werden musste, um das Muster anschließend mit Steingeräten in etwa 1,5 Stunden in die aufgeweichte Knochenoberfläche zu schnitzen. Der nun entdeckte kleine Fußknochen wurde einem Riesenhirsch (Megaloceros giganteus) zugeordnet. „Es dürfte kein Zufall sein, dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat“, sagt Prof. Dr. Antje Schwalb vom Institut für Geosysteme und Bioindikation der Technischen Universität Braunschweig.
Das Leibniz Labor der Universität Kiel konnte für den verzierten Knochen mit der Radiokarbonmethode ein Alter von über 51.000 Jahren ermitteln. Damit ist es erstmals gelungen, ein vom Neandertaler verziertes Objekt mit dieser Methode verlässlich zu datieren. Bislang waren einige Schmuckobjekte aus der Zeit der letzten Neandertaler in Frankreich bekannt. Diese etwa 40.000 Jahre alten Funde werden jedoch von vielen Forschenden als Nachahmungen angesehen, denn zu dieser Zeit hatte sich bereits der moderne Mensch in Teilen Europas ausgebreitet. Aus etwa zeitgleichen Höhlenfundstellen des modernen Menschen auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg sind Schmuckobjekte und kleine Elfenbeinskulpturen überliefert.
„Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt nun, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren“, sagt Projektleiter Prof. Dr. Thomas Terberger vom NLD und vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen. „Dies spricht für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers. Der Knochen von der Einhornhöhle repräsentiert somit das älteste verzierte Objekt Niedersachsens und einen der bedeutendsten Funde aus der Zeit des Neandertalers in Mitteleuropa.“
Fossile Fledermausknochen entdeckt
In zeitlich vermutlich korrelierenden Sedimenten innerhalb der Höhle konnte Dr. Hildegard Rupp vom Institut für Geosysteme und Bioindikation der TU Braunschweig außerdem fossile Fledermausknochen nachweisen. Um die winzigen, teilweise nur zehn Millimeter langen Kieferbruchstücke zu finden, musste der Grabungsaushub mit einem Volumen von rund 280 Litern gewaschen und akribisch durchsucht werden. Insgesamt liegen 29 Bruchstücke vor, die auf zehn Arten zurückgehen. Da Fledermäuse hohe Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, kann anhand dieser Funde auf die ökologischen Verhältnisse außerhalb der Einhornhöhle während der Ablagerungsperiode der Sedimente geschlossen werden. Demnach herrschten in dieser Zeit Wälder vor und die durchschnittlichen Sommertemperaturen waren vergleichbar mit den heutigen. Diese Ergebnisse belegen den hohen Wert der Sedimente der Einhornhöhle mit den darin eingebetteten fossilen Resten ehemaliger Bewohner. Solche Klima- und Umweltarchive für die Zeitscheibe des Neandertalers mit derartig gut erhaltenen Knochen sind äußerst rar.
Erkenntnis, die unser Bild der Vorzeit revidiert
Niedersachsens Wissenschaftsminister Björn Thümler sagt: „Die niedersächsische Archäologie sorgt immer wieder für Befunde und Funde, die unsere Geschichte neu schreiben. Nun hat die Forschung in der Einhornhöhle ergeben, dass schon die Neandertaler vor Ankunft der modernen Menschen aufwendig zu erstellende Zeichen erzeugten – wieder einmal eine weitreichende neue Erkenntnis, die unser Bild der Vorzeit gründlich revidiert.“
Projektpartner
Neben dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, der Universität Göttingen und der Technischen Universität Braunschweig waren die Universitäten Kiel, Tübingen und die FU Berlin am Projekt beteiligt. Es wurde vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur im Rahmen des Programms Pro*Niedersachsen gefördert.
Gemeinsame Pressemitteilung von TU Braunschweig, Niedersächsischem Landesamt für Denkmalpflege und Universität Göttingen