Zwischen Talar und Klassenkampf In Zeiten des Umbruchs: 1968 an der TH Braunschweig
Es ist das Jahr der Rebellion. Das Jahr der Proteste gegen den Vietnam-Krieg, gegen die fehlende Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, gegen das Establishment und auch gegen verkrustete Strukturen an den Hochschulen und den Bildungsnotstand. Unter dem Ruf „Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren!“ machen die Studierenden 1968 in den Universitätsstädten ihrem Unmut Luft. Auch in Braunschweig? Eine Spurensuche mit Professor Christian Kehrt, Dr. Klaus Latzel und Michael Wrehde vom Institut für Geschichtswissenschaft.
Nach einer Studentenrevolution sah es in der Okerstadt Ende der 1960er Jahre nicht aus. So viel kann vorweg genommen werden. Hier flogen keine Puddingbomben und Tomaten oder gar Pflastersteine. Die Straßenschlachten nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke tobten in anderen Städten. „Das Bild dieser Zeit ist geprägt von Berlin und Frankfurt am Main“, erklärt der Historiker Dr. Klaus Latzel, der gemeinsam mit Professor Christian Kehrt, Geschäftsführender Leiter des Instituts für Geschichtswissenschaft, und Michael Wrehde die Geschichte des Jubiläums „50 Jahre Geisteswissenschaft und Lehrerbildung an der Fakultät 6“ aufarbeitet. Aus diesem Anlass entsteht auch die studentische Ausstellung mit dem Titel „Zeiten des Umbruchs. Geisteswissenschaftliches Studium an der TU Braunschweig in den sechziger und siebziger Jahren“, die am 9. Mai 2018 in der Universitätsbibliothek eröffnet werden soll.
Studieren in Zeiten des Umbruchs
Interessiert hat dabei die Studierenden vor allem, wie die Kommilitonen Ende der 1960er Jahre gelebt haben. Wie haben sie gewohnt, wie haben sie ihre Freizeit verbracht? Wie war der Umgang mit den Professoren? Und wie wurde dieser Umbruch, dieser Zeitenwandel in Braunschweig erlebt?
Seminare wurden gestört, weil Professoren nicht mit den Studierenden diskutieren wollten, Prüfungen mit Menschenketten verhindert. Doch alles in allem war es in der Löwenstadt recht friedlich. Vielleicht auch, weil zahlreiche Braunschweiger Studierende in der Okerstadt aufgewachsen waren und noch bei ihren Eltern lebten. „Allein in eine Wohnung zu ziehen, wäre für meine Familie undenkbar gewesen“, schreibt die ehemalige Studentin Susanne Garten 2008 dazu in der Frankfurter Rundschau. „Mit autoritärer Erziehung aufgewachsen, empfand ich das studentische Verhalten damals absolut revolutionär und spannend.“
Schweigemarsch für Benno Ohnesorg
Zwar blieb auch in Braunschweig Benno Ohnesorgs Tod nicht ohne Wirkung. Doch wurde dem Studenten, der am Braunschweig-Kolleg sein Abitur ablegte, mit einem Schweigemarsch gedacht. Rund 1.200 Studierende der damaligen Technischen Hochschule, der PH und der Hochschule für Bildende Künste gingen im Juni 1967 in Braunschweig auf die Straße. Zu Zwischenfällen kam es nicht.
Streikwochen, Besetzung von Seminaren und Vorlesungen sowie Diskussionen waren das Mittel der Wahl, um sich zu positionieren. Bis zum Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 blieben diese Aktionen ohne große Anteilnahme oder Reaktionen der Braunschweiger Bevölkerung. „Dann ändert sich die Stimmung“, so Klaus Latzel. Die Atmosphäre ist angespannt, als Studierende auf dem Kohlmarkt das Gespräch mit Passanten suchen. Einige Bürgerinnen und Bürger werfen ihnen vor, sie terrorisierten als Minderheit eine Mehrheit und zweifelten an ihrem „Arbeitswillen“, heißt es in einem Artikel der Braunschweiger Zeitung vom 19. April 1968: „Obwohl die Studierenden in Braunschweig bisher keine Zwischenfälle verursacht oder gar provoziert haben, richtet sich die Aversion der Bevölkerung schlechthin gegen „die Studenten“. Sie werden als „Hottentotten“ beschimpft und der Einsatz von „Knüppeln“ gegen sie gefordert, heißt es in der Braunschweiger Zeitung. Mancher scheute sich sogar nicht vor der Bemerkung: „Vergast sie doch, da sind mir ja die Neger noch lieber.“ Trotz dieser heftigen Diskussionen eskalierte der Streit jedoch nicht.
Proteste gegen Bildungsnotstand
Neben den großen politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen jener Jahre hatten die Proteste in Braunschweig meist ein Thema zum Anlass: den Bildungsnotstand. Bereits im Juni 1967 machen die Studierenden mit ihrer „Aktion 1. Juli“ darauf aufmerksam. Zusammen mit Professoren, Schülern und Lehrern setzten sie sich für die Verabschiedung eines Ausbildungsförderungsgesetzes durch den Bundestag ein. Damit wollten sie vor allem erreichen, dass auch Kinder aus Arbeiterfamilien ein Hochschulstudium „ohne Sorgen“ ermöglicht wird. Eine Woche lang gibt es Diskussionen auf dem Kohlmarkt, in der Stadthalle und im Audimax.
Später werden die Ausstattung der Institute und schlechte Studienbedingungen beklagt. Aber auch ganz alltägliche Probleme, wie die Erhöhung der Preise für die Freibäder oder die Preise in der Mensa. „Da geht es auch mal darum, ob ein Essen 60 oder 70 Pfennig kosten soll“, so Professor Christian Kehrt.
In Anzug und Kostüm zum Streik
Mit der Explosion der Studierendenzahlen wird nicht nur studentisches Wohnen zur Herausforderung. Der Neuzugang zum Wintersemester 1968/1969 liegt weit über dem Schnitt der vorhergehenden Jahre. „Zwischen 1965 und 1972 verdoppelt sich die Zahl der eingeschriebenen Studierenden auf über 10.000“, berichtet Michael Wrehde.
Immer wieder gehen die angehenden Akademikerinnen und Akademiker in den Warnstreik und fordern weitere Lehrkräfte und mehr Arbeitsplätze in den Bibliotheken. Anglistik-Studierende – in Anzügen, Kostümen und Blusen – demonstrieren im Oktober 1968 gegen die schlechten studentischen Arbeitsbedingungen. „Betreten der Bibliothek nur mit Fallschirm gestattet“ und „Tausche Englisch-Grammatik gegen Sturzhelm“ heißt es auf ihren Plakaten. Unter den Büchern der Anglistik-Bibliothek bogen sich die Balken, so dass das Seminar in der Schleinitzstraße vorübergehend geschlossen werden musste.
Sit-In im Rektorat
138 zukünftige Realschul- und Gymnasiallehrerinnen und -lehrer müssen sich jetzt neun Arbeitsplätze teilen. Neben ausreichender Besetzung des Lehrstuhls vermissen sie genügend Raum zur Ausleihe von Büchern, zum Fachstudium im Institut selbst und zum Besuch von Sprachlabor und Seminar. Deshalb protestieren die Studierenden schließlich mit einem Sit-In im Rektorat.
Ein undenkbarer Vorgang in den Jahren zuvor. Doch so wie sich die Jugend zunehmend den Eltern widersetzt und deren Lebensentwürfe kritisiert, so stellen die Studierenden auch die Autorität der Professoren in Frage, setzen Professoren mit Flugblättern unter Druck oder fordern, sie zu duzen.
Talare werden eingemottet
Bereits im November 1967 drängen die Studierenden auf eine innere Reform der Technischen Hochschule. „Die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden ist tot“, heißt es auf einem Plakat zur Immatrikulationsfeier 1967/68. Der AStA nahm die Zwangsexmatrikulation von vier Architektur-Studenten zum Anlass, Reformen anzumahnen. Die Studenten hatten zwischen 16 und 30 Semestern „ohne hinreichende Leistung studiert“, hatte der damalige Rektor Karl Gerke als Begründung mitgeteilt. Der Studentische Rat und der AStA bezweifelten jedoch die Rechtsgrundlage der Exmatrikulationen. Der damalige AStA-Vorsitzende Rolf Loeper verwies auf die noch immer vorhandenen „autoritären Strukturen“ an den Universitäten. Von einer demokratischen oder reformierten Hochschule könne keine Rede sein.
Die Diskussion um die innere Struktur zwingt die Universität schließlich auch die „Formen ihrer Selbstdarstellung zu überdenken“. So findet der Rektoratswechsel im Juli 1968 von Professor Karl Gerke an Professor Herbert Wilhelm erstmals unter Verzicht fast aller traditionellen Zeremonien statt: ohne Gäste und vor allem ohne Talare. Beim Fackelzug der Studierenden, um den neu gewählten Rektor zum Rektorat zu begleiten, wird auch in Braunschweig der Ruf laut: „Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren!“ Seitdem bleiben die Professoren-Talare „eingemottet“. Wer die Gewänder einmal sehen will, sollte die Ausstellung „Zeiten des Umbruchs“ ab dem 9. Mai nicht verpassen.