Wie wird man ein Klassiker (sic!) und was hat Twitter damit zu tun? Fünf Fragen an Nicole Holzhauser über Wissenschaftskommunikation und Erfolg in der Wissenschaft
Wissenschaftliche Reputation ist für Wissenschaftler*innen eine entscheidende Eigenschaft. Wie wird sie verteilt, wovon ist sie abhängig und wer erreicht hier die höchsten Höhen? In den Naturwissenschaften sind es die Nobelpreise. In den Geistes- und Sozialwissenschaften hebt die Zuweisung des Klassiker*innenstatus eine ähnlich exklusive Gruppe heraus. Die Erkenntnisse der Nobelpreisträger*innen gehen in die Lehrbücher ein und bilden herausgehobene Wissensinhalte, denen erhebliche Bedeutung für unser wissenschaftliches Verständnis der Natur zugeschrieben wird – oder zumindest einmal zugeschrieben wurde. Die Ideen, Theorien und Erkenntnisse von Klassiker*innen finden sich ebenfalls in Lehrbüchern, sie gehen in den Kanon ein und werden zur Grundlage der theoretischen Weiterentwicklung des jeweiligen Faches. An ihnen wird sich abgearbeitet und ihre Beiträge bilden den Ausgangspunkt für bedeutende fachwissenschaftliche Diskurse und Debatten.
Dr. Nicole Holzhauser, Postdoc am Institut für Soziologie der TU Braunschweig, hat sich mit dem Prozess der Kanonisierung soziologischer Klassiker*innen wissenschaftlich beschäftigt und dabei einen quantitativen methodischen Zugang gewählt. Ein Ansatz, der in diesem Themengebiet, das eher durch eine geschichtliche Perspektive mit einem Fokus auf Fallstudien charakterisiert ist, eher ungewöhnlich ist und internationale Aufmerksamkeit erfahren hat.
Frau Holzhauser, Sie wurden gebeten, Ihre aktuellen Forschungsergebnisse im LSE Impact Blog vorzustellen. Was ist der LSE Impact Blog und wie kam es dazu?
Das LSE Impact Blog ist ein Blog, das die Aufgabe hat, Forscher*innen, Entscheider*innen in Politik und Verwaltung, die britische und internationale Regierungen und jeden Interessierten über neueste gesellschaftlich relevante Ergebnisse aus den Sozialwissenschaften zu informieren. Die London School of Economics and Political Science oder kurz LSE ist eine der bedeutendsten sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungs- und Lehrinstitutionen, die es gibt. Sie ist in den genannten Wissenschaftsbereichen weltberühmt. Das Ziel des Impact Blogs ist es – ganz im Sinne der zurzeit viel diskutierten „Third Mission“ – die sozialwissenschaftliche Forschung und die akademische Debatte in den genannten Disziplinen für die Gesellschaft zugänglich zu machen und ihren Einfluss in der Gesellschaft zu erhöhen.
Auslöser für die Einladung zu einem Blog-Beitrag war ein Tweet über meinen kürzlich erschienenen Aufsatz im International Review of Sociology, der ältesten und traditionsreichsten wissenschaftlichen Zeitschrift im Feld der Soziologie. In meinem Aufsatz geht es um die Frage, welche Prozesse im Rahmen der sogenannten Kanonisierung, also der Zuweisung von ganz besonders herausgehobener Bedeutung an einzelne Wissenschaftler*innen, wichtig sind und welche Rolle insbesondere soziale und wissenschaftliche Kriterien für Reputation dabei spielen. Mein Tweet erregte die Aufmerksamkeit des Herausgebers des LSE Impact Blogs, wurde von ihm retweetet und führte dann zu der Einladung, meine Forschung dort für eine breitere Zielgruppe darzustellen.
Die Nutzung sozialer Medien hat Ihnen also in diesem Fall ermöglicht, Ihre Forschung viel breiter bekannt zu machen, als das sonst vielleicht möglich gewesen wäre? Wie sehen Sie die Bedeutung solcher neueren Formen der Wissenschaftskommunikation, jenseits der klassischen Vermittlungsformen durch wissenschaftliche Aufsätze, Tagungsbeiträge oder die Publikation von Monographien?
Ja, auf jeden Fall hat Twitter die Reichweite meines Aufsatzes erhöht. Durch die Nutzung von Twitter und der dabei möglichen Schneeballeffekte durch das Retweeten erreicht man ja ohnehin schon eine deutlich größere Anzahl von potentiell Interessierten. Auch Plattformen wie etwa ResearchGate erlauben ja eine gewisse Reichweitenerhöhung und die einfache Vernetzung von Wissenschaftler*innen, die an den gleichen Themen interessiert sind. Diese Arten von sozialen Medien, bei denen es (auch) eine stark akademisch geprägte Nutzer*innengemeinde gibt, erlauben eine viel effektivere Information der Kolleg*innen als die reine Publikation und ihre klassischen Formen der Bekanntmachung durch Verlagskataloge oder elektronisch versendete Inhaltsverzeichnisse von wissenschaftlichen Zeitschriften. Das sieht man ja nicht zuletzt auch daran, dass gerade die renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften wie Nature oder Science sich entsprechend engagieren.
Aber nicht nur für das „Marketing“ der eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind diese neueren Kanäle meiner Einschätzung nach von besonderer Bedeutung. Wissenschaft ist eine genuin internationale Unternehmung. Die informelle Kontaktaufnahme und Kommunikation mit Kolleg*innen, die über die ganze Welt verstreut sind, gelingt auf diese Weise viel einfacher und auch mit einer ganz anderen Intensität, als es möglich wäre, wenn man sich nur alle ein, zwei Jahre auf Kongressen begegnet. Durch die Einschränkungen der vergangenen zwei Jahre haben sich hier neue Formen der Kommunikation etabliert. Ganz neue Austauschmöglichkeiten sind alltäglich geworden. Onlinekongresse und -vorträge sowie Videochats sind jetzt normal. Das ist vor allem auch vor dem Hintergrund der immer weiter fortschreitenden Spezialisierung in allen Wissenschaften meiner Meinung nach von großer Bedeutung.
Jetzt aber zu Ihrem Aufsatz. Was haben Sie herausgefunden und warum ist das von allgemeinem Interesse für die Wissenschaft und darüber hinaus auch für die Gesellschaft?
Von all den Wissenschaftler*innen, die zum Beispiel in den Sozialwissenschaften akademisch gearbeitet haben, erreichten nur ganz wenige – und zwar ausschließlich Männer – den Status eines Klassikers und wirkten nachhaltig in das Fach: mit Ideen, Theorien und Erkenntnissen, die kanonisch geworden sind und in das Standardwissen und das analytische Standardwerkzeug des Faches eingehen. Wie dieser Prozess der Kanonisierung sich vollzieht und welche Faktoren – neben den offensichtlichen Genderaspekten – dabei wie wichtig sind, ist nicht abschließend geklärt. Es gibt zwar viele Fallstudien zu den genannten Personen, aber quantifizierende Ansätze sind selten. Ich habe mich mit diesem Problem anhand von Daten aus dem 20. Jahrhundert beschäftigt und versucht, zu analysieren, was jemanden zur*zum Klassiker*in werden lässt. Hierbei zeigt sich, dass soziale Reputation im akademischen Bereich, indiziert etwa durch herausgehobene Positionen wie Herausgeberschaften oder Führungspositionen in akademischen Fachgesellschaften von erheblicher Bedeutung für eine große Reputation sind, aber keine hinreichende Basis für nachhaltige Bedeutsamkeit darstellen.
Am Ende kommt es dann doch auf die Ideen, Theorien und Erkenntnisse an.
Das weitergedacht ist für heute festzustellen, dass durch die Entwicklung der Wissenschaft, die sich immer stärker der möglichst effizienten Produktion von Wissen hat verschreiben lassen, eine gewisse Rationalisierung und damit auch eine andauernde Debatte über die Erfolgskriterien für Wissenschaftler*innen und Wissenschaft notwendig geworden ist. In der großen Zeit der klassischen Wissenschaft war noch die einzelne Person und ihr akademisches Produkt in ähnlicher Weise miteinander verbunden wie etwa der*die Handwerker*in mit seinem*ihrem Werk. Ganz ähnlich wie in der Produktion anderer Güter hat sich auch in der Wissenschaft zunächst eine Art von wissenschaftlichen Manufakturen entwickelt, zum Beispiel durch die Entwicklung neuer experimenteller Techniken, die ganze Untersuchungsreihen ermöglichten. In der heutigen Zeit wurden diese wiederum von einer industriellen Produktion von Wissen abgelöst. Dies lässt sich zum Beispiel sehr deutlich in den Biowissenschaften nachvollziehen. Damit wird aber auch wieder ganz klassisch der vorher klar bestimmbare Zusammenhang zwischen Produzent*innen und Produkt aufgelöst und die Frage der Leistungsbewertung der in großen Kooperationszusammenhängen arbeitenden Wissenschaftler*innen stellt sich auf neue Art. Und das wird möglicherweise auch die Frage nach der Auswahl von Klassiker*innen in den Geistes- und Sozialwissenschaften der Zukunft noch einmal ganz neu aufbringen.
Was ist denn für Sie Erfolg in der Wissenschaft?
Für mich bin ich dann erfolgreich, wenn ich etwas besser verstanden habe, als es vorher verstanden worden ist. Das bessere theoretische Verständnis der Welt und des jeweils gerade gewählten Gegenstandsbereichs ist nach meiner Auffassung der Ertrag der Wissenschaft. Und wenn ich dazu beitragen kann, dann betrachte ich das als wissenschaftlichen Erfolg. Im konkreten Beispiel bin ich also dann erfolgreich, wenn meine Arbeit dazu beiträgt, besser zu verstehen, wie der Prozess der Kanonisierung – und damit verbunden auch der Prozess des „Vergessens“ und Ausschließens der restlichen wissenschaftlichen Beiträge – funktioniert.
Diese Bestimmung wissenschaftlichen Erfolgs soll aber andere Arten der wissenschaftlichen Erfolge, die eher technologisch orientiert sind, nicht entwerten. Lewis Wolpert folgend kann man zwischen „Science“ und „Technology“ unterscheiden. Und technologische Erfolge, die neue Formen der Einflussnahme auf die Welt und uns selbst ermöglichen, sind von überragender Bedeutung für die Gesellschaft, auch wenn sie unter Umständen unser Verständnis der Welt theoretisch wissenschaftlich nicht erweitern. Ganz besondere Bedeutung in vielfacher Hinsicht erlangen natürlich die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die nicht nur unser theoretisches Verständnis der Welt – womöglich grundlegend – erweitern, sondern die auch die Entwicklung neuer technologischer Ansätze ermöglichen. Und damit sind explizit auch sozialtechnologische Aspekte gemeint.
Wie wird man denn nun ein Klassiker – oder gar eine Klassikerin?
Am besten ist es, wenn Sie schon eine*r sind. 😉
Nein, im Ernst… Die Analyse hat für das 20. Jahrhundert gezeigt, dass diejenigen zu Klassikern der Soziologie wurden – es waren in den von mir untersuchten Daten ausschließlich Männer –, die in ihrer zeitgenössischen wissenschaftlichen Community herausragend oft von ihren Kollegen zitiert wurden und die – und das scheint auch ein zentrales Kriterium zu sein – gleichzeitig nur sehr wenige Ämter innehatten, also eher nicht Mitglieder des Vorstands der wissenschaftlichen Fachgesellschaft oder Herausgeber waren. Das würde folglich bedeuten, als Wissenschaftler*in, der*die nach Ewigkeitsstatus strebt, sollte man sich auf die eigene wissenschaftliche Tätigkeit konzentrieren und herausragendes Wissen produzieren, das unabhängig vom Wohlwollen von sozialen Kontakten und Netzwerken nicht ignoriert werden kann.
Zur*zum Klassiker*in wird man also eher durch Ideen, Theorien und Erkenntnisse, durch die die Welt nicht mehr so aussieht wie vorher. Und auch, wenn sie vielleicht hin und wieder entzaubert erscheint, stellt sich im Lichte des erweiterten Verständnisses das Wissen ein, etwas Bedeutendes erkannt zu haben. Auch ein zentrales oder viele kleinere Detailprobleme zu lösen, kann mit erheblichem wissenschaftlichem Erfolg einhergehen – gerade unter den aktuellen Bedingungen der industriellen Wissenschaft und den damit verbundenen Gratifikationssystemen. In den technologisch orientierten Wissenschaften kann die Lösung von grundlegenden technologischen Problemen einen zur*zum Klassiker*in werden lassen. Die Wege zum Ruhm sind von Wissenschaft zu Wissenschaft durchaus unterschiedlich und letztlich – und das bringt uns wieder zurück zu meiner Forschung – entscheidet eine wissenschaftliche Gemeinschaft in der Summe ihrer alltäglichen Praktiken und Riten der gegenseitigen Anerkennung darüber, wer, warum und für wie lange Beachtung findet.
Für die vielen Netzwerker*innen und Sozialmanager*innen in der Wissenschaft mag es vielleicht ein wenig enttäuschend sein, dass sich offenbar über soziale Aktivität und Kontrolle allein zwar temporär soziale Macht und Einfluss auch auf die wissenschaftlichen Entwicklungen ausüben lässt, dieser Weg einen aber eher nicht zur*zum Klassiker*in werden lässt. Die fast vollständige Abwesenheit von Frauen im Prozess der Kanonisierung sollte dennoch Anlass geben, die ja durchaus teilweise auch sozialen Kriterien, nach denen eine wissenschaftliche Community in ihrer jeweiligen Gegenwart Anerkennung (z.B. in Form von Zitationen) verteilt, kritisch zu reflektieren. Sieht man davon ab, bleibt als positives Fazit, dass sich eine nachhaltige Bedeutsamkeit anscheinend nur über das Werk herstellen lässt. Und insofern gibt es eigentlich gar keine Klassiker*innen, sondern nur besonders bedeutsame Beiträge zum Verständnis der Welt. Und das ist ja auch ganz im Sinne der Wissenschaft.