Vom Gehen im Karst ... oder was einen Literaturwissenschaftler zu den Geoökologen zieht - fünf Fragen an Professor Jan Röhnert
Literaturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn, vermittelt auf dem Wege des Erwanderns und naturwissenschaftlichen Verstehens einer Landschaft? Ganz schön abgefahren, was sich Professor Jan Röhnert, Institut für Germanistik, vorgenommen hat. Der Hintergrund: Bedeutende Autoren haben sich künstlerisch mit der Karstlandschaft auseinandergesetzt. Röhnerts Ziel ist es nun, die literarische Präsenz dieser Landschaft nicht nur literaturwissenschaftlich zu analysieren, sondern den Gegenstand durch eigenes Erleben und zudem durch geoökologisches Wissen neu zu erschließen; Erkenntnisgewinn also auf der Schnittfläche von Dichtung, persönlicher Lebenswirklichkeit, Ökologie und den Geowissenschaften. Die VolkswagenStiftung fand diesen Ansatz so vielversprechend, dass sie sein Projekt jetzt im Rahmen ihrer Initiative „Originalitätsverdacht?“ ein Jahr lang mit 80.000 Euro fördert. Von dem Geld wird in erster Linie eine Lehrvertretung finanziert.
Herr Professor Röhnert, mal ganz unbedarft gefragt: Woran erkenne ich eine Karstlandschaft?
Sie können sie zum Beispiel an der Beschilderung erkennen. (Lacht.) Tatsächlich: Wenn Sie nach Osterode im Südharz fahren, ist der dort beginnende Karst-Wanderweg sehr gut ausgeschildert. Man muss gar nicht weit fahren, um im Karst zu wandern. Gut zu erkennen ist das weiße Gestein. An einer Stelle wird dort der Gipskarst auch abgebaut. Ein umstrittenes Thema, weil der Abbau die einzigartige Landschaft verändert. Andererseits: Aus dem Steinbruch entsteht eine Sekundärlandschaft. Im Grunde ist das sogar ein Wesensmerkmal von Karstlandschaften: Sie verändern sich nämlich ständig. Der poröse Stein wird unterhöhlt, er bricht ein. Man weiß von ganzen Flüssen, die verschwinden, und von Höhlentauchern, die nicht zurückkehren. Der Karst liefert viele Geschichten für die Umweltmythologie.
War der Karst deshalb schon immer auch ein Thema für die Literatur?
Wenn man ganz weit in der Mythologie zurückgeht, sind karstartige Landschaften als Schwellenräume – beispielsweise zur Unterwelt – immer von einer besonderen Aura umgeben gewesen; denken Sie nur an Orpheus’ Abstieg ins Totenreich oder Schilderungen in Dantes Höllenkreisen. Der empirische Karst ist allerdings erst spät als eine emphatische Landschaft der Literatur empfunden worden, das geht etwa einher mit dem Aufkommen der modernen Geowissenschaften: Die Zäsur bildet womöglich Adalbert Stifters Novelle „Kalkstein“, die 1853 erschien. Goethe war im Harz nur am Brocken interessiert, der Karst kommt bei ihm gar nicht vor. Die Dichter haben diese Landschaft im Grunde erst spät entdeckt. Auf den ersten Blick wundert das nicht. Der Kalkstein ist sehr porös und wird vom Wasser ausgewaschen. Dort ist kaum Humus zu finden. Auf dem reinen Karst kann man kaum etwas tun – er lässt sich nicht landwirtschaftlich nutzen. Aber diese Kargheit ist auch faszinierend. Und sie enthüllt bei näherem Hinsehen eine große Vielfalt.
Und der Karst in der Moderne?
Im Werk von Peter Handke spielt diese Landschaft eine ganz zentrale Rolle, besonders in seiner Erzählung „Die Wiederholung“ von 1986. Er findet ihn in seiner erzählerischen Heimat, in Slowenien, auch in Kroatien, Triest, in Kastilien und auf dem Balkan. Ich freue mich sehr darauf, nicht nur vom Schreibtisch aus seine Schilderung zu erforschen, sondern auch vor Ort schauen zu können: Wie sieht es dort aus, und vor allem: was hat Handke daraus gemacht.
Dabei geht es mir nicht allein um die Landschaftsbeschreibung. Handke hat den Karst in seiner Literatur verinnerlicht. Das Schwellenartige, sich stets Verändernde, prägt sein ganzes Schreiben. Er hat die Struktur, nicht nur den Anblick der Landschaft in sein literarisches Werk übertragen.
Ein anderer Dichter, den ich in den Blick nehmen will, ist Julien Gracq, der Lieblingsautor des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Gracq schrieb mit die beste geopoetische Prosa überhaupt. Im Zentrum steht das Massif central südlich der Auvergne. Und schließlich soll es auch um Rainer Maria Rilke gehen: Das Schloss Duino, wo er seine „Duineser Elegien“ schrieb, liegt mitten im Triester Karst.
Ich glaube, dass die persönliche Anschauung der jeweiligen Landschaft uns das literarische Werk auf eine besondere Weise nahebringt. Die Literaturwissenschaft hat das bisher verneint.
Sie planen auch, die Geologie und Geoökologie mit in Ihre Arbeit einzubeziehen – wie soll das vonstattengehen?
Ich habe schon sehr vielversprechende Gespräche mit den Braunschweiger Kolleginnen und Kollegen geführt, mit Antje Schwalb und Boris Schröder-Esselbach beispielsweise. Die Naturwissenschaften helfen mir, die Landschaft besser zu verstehen. Mich interessiert, wie die Kollegen das Phänomen Karst diagnostizieren, und was die Literatur dann daraus macht. Sie füllt ja im Grunde eine Lücke, die die empirischen Wissenschaften hinterlassen, indem sie sich mit der subjektiven Wahrnehmung beschäftigt, die eine Landschaft in uns hervorbringt. Zu Zeiten von Alexander von Humboldt und Carl Ritter, den Vätern der modernen Geographie, musste man alle Beobachtungen noch in Worte fassen. Im Grunde mussten die Geographen und Geologen damals auch Dichter sein. Heute leisten die digitalen Messmethoden die Erfassung in der Sprache der Mathematik.
Trotzdem bleibt auch für die Naturwissenschaften die Frage bestehen, wie die persönliche Motivation des Forschers oder der Forscherin das Bild von der Landschaft prägt – und umgekehrt. Der Beobachtende ist ja immer Teil dessen, was er sieht.
Apropos Beobachter: Am Ende Ihrer Wanderung durch Landschaft und Literatur soll ein Essay entstehen. Wie kommt die Persönlichkeit Jan Röhnert da ins Spiel?
Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, wie stark ich meine eigene Involviertheit in den Duktus des Schreibens mit einbeziehen werde. Das ist noch nicht entschieden. Und ob das Ergebnis gelingen wird, soll sich zeigen.