Volltreffer ins Blaue Die Universität Tampere ist jetzt strategische Partnerin der TU Braunschweig
Seit dem 01. Juli 2019 ist es „amtlich“: Die Universität Tampere in Finnland ist strategische Partnerin der Technischen Universität Braunschweig. Ein Kooperationsvertrag regelt jetzt die Zusammenarbeit beider Hochschulen. Wie vielfältig diese ist, zeigen zwei von vielen Beispielen aus Forschung und Verwaltung.
Pasi Kallio ist Professor für Mikro- und Nanosysteme an der Universität Tampere. Seinen Kollegen Andreas Dietzel, Leiter des Instituts für Mikrotechnik der Carolo-Wilhelmina, kennt er schon seit Jahren. Beide haben gemeinsame Anträge geschrieben und treffen sich regelmäßig auf Konferenzen. Beide teilen ein hoch aktuelles Forschungsthema, nämlich die Organ-on-chip-Technologie. Gemeinsam wollen sie dieses Thema vorantreiben. Seit die Universitäten beschlossen haben, strategische Partner zu werden, erhält ihre Zusammenarbeit neuen Rückenwind.
Eine Alternative zu Tierversuchen
Im Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik (PVZ) der TU Braunschweig arbeiten Forscherinnen und Forscher aus Ingenieur- und Lebenswissenschaften eng zusammen. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Wirkstoffforschung und -produktion. „Bisher ist die Testung von möglichen neuen Medikamenten sehr weitreichend auf Tierversuche angewiesen“, sagt Andreas Dietzel. „Aber alle sind sich einig, dass wir aus ethischen Gründen Alternativen brauchen.“
„Ohne echte Alternativen besteht die Gefahr, dass die Zahl der Tierversuche sogar noch zunimmt, weil die Anzahl der zu testenden Wirkstoffkandidaten sowie der vorgeschriebenen Prüfungen steigt“, sagt sein Kollege Stephan Reichl vom Institut für Pharmazeutische Technologie mit dem er im PVZ neue Methoden der Chip-basierten präklinischen Testung entwickelt. Auch sollen die neuen Verfahren die Übertragbarkeit auf den Menschen verbessern.
Wirkstofftests mit künstlichen Organen
Bei der Organ-on-chip-Technologie wird mit Zellkulturen gearbeitet, die auch von Menschen stammen können. Sie werden auf Mikrochips gezüchtet. Winzige Sensoren auf diesen Chips erfassen die Austauschprozesse in und zwischen diesen Zellen. So können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon heute testen, wie Wirkstoffe in die Zellen aufgenommen werden und ob bzw. wie sie wirken. In Zukunft sollen auch komplexe Stoffwechselfunktionen auf diese Weise erforscht werden können. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Arbeitsgruppen von Pasi Kallio und Andreas Dietzel wollen ihn künftig gemeinsam beschreiten. Ihre Kompetenzen ergänzen sich hervorragend. Dietzel sagt: „Wir haben neueste Technologien der Mikro-Fabrikation für bio-mimetische Umgebungen entwickelt, die Kollegen in Tampere haben spezielle Kenntnisse auf dem Gebiet der elektrophysiologischen Untersuchung neuronaler Strukturen. Diese Expertisen ergänzen sich ganz natürlich.“ Beim Besuch der Arbeitsgruppe aus Tampere in Braunschweig wurden im Juni nun konkrete Ideen für einen gemeinsamen EU-Antrag entwickelt.
Seed-Funding: Starthilfe für neue Ideen
Andreas Hebbelmann vom International House kümmert sich derweil darum, dass der Austausch in Gang kommt und reibungslos funktioniert. Beide Universitäten unterstützen Kooperationen dieser Art mit einer finanziellen Starthilfe, dem Seed-Funding. Vor allem Reisekosten können daraus finanziert werden. So können Forscherinnen und Forscher auf Antrag gemeinsame Meetings und kleine Konferenzen abhalten – beste Rahmenbedingungen fürs Pläneschmieden und Konkretisieren. Die Seed-Funds kommen auch Partnerschaften aus den Bereichen Mobilität, Nachrichtentechnik und den beiden Universitätsbibliotheken zugute. Auch die Lehrerbildung ist seit neuestem auf dem Weg zu einer vertieften Kooperation.
Ihre Wurzeln hat die strategische Zusammenarbeit mit der Universität Tampere nicht in der Forschung, sondern in der Verwaltung. „Wir wollten, dass auch unsere Geschäftsbereiche von der Internationalisierungstrategie unserer Universität profitieren“, erzählt der Hauptberufliche Vizepräsident Dietmar Smyrek. „Da wir unsere Englischkenntnisse fördern wollten, haben wir uns gezielt nach möglichen europäischen Partneruniversitäten umgeschaut, die nicht aus dem deutschsprachigen Raum kommen und Englisch genau wie wir als Zweitsprache einsetzen. Außerdem sollte es eine Hochschule sein, die in Größe und Profil mit uns vergleichbar ist. Die skandinavischen Universitäten waren uns als besonders innovativ bekannt. Irgendwann war dann klar, dass die Universität Tampere alle Bedingungen erfüllt. Den Kontakt bahnte Andreas Hebbelmann an, der bereits Ansprechpartner kannte.“
„Es war ein Schuss ins Blaue“, erinnert sich Smyrek. Beim ersten Besuch einer Delegation aus Braunschweig funkte es dementsprechend nicht sofort. „Allerdings waren wir überrascht, wie gut die Finnen vorbereitet waren. Sie kannten zum Beispiel die OpenHybrid LabFactory (OHLF) der TU Braunschweig, und wir konnten mit unserer TU9-Mitgliedschaft punkten.“
Von der Holzwirtschaft zur Hightech-Nation
Umso besser funktionierte dann ab dem zweiten Tag der persönliche Austausch zu konkreten Themen zwischen den jeweiligen Kolleginnen und Kollegen. In Tampere hat es gerade einen Fusionsprozess zwischen Universität, Hochschule und Technischer Universität gegeben. Die Braunschweiger erhielten Einblicke in den entsprechenden Markenprozess. „Die Finnen sind außerdem zu enorm kreativen Lösungen gekommen, wie man zum Beispiel Hörsäle ohne Stühle, nämlich mit großen Sitztreppen, bauen kann und den Transfer durch buchbare Arbeitsplatz-Module und innovative Studiengänge fördert.“ So habe man dort den Wandel von der Holzwirtschaft zur Hightech-Nation geschafft, sagt Smyrek.
Im Gegenzug stellte die Carolo-Wilhelmina die stark dezentral geprägte Governance der Forschungsschwerpunkte und -zentren vor. Viele weitere Themen folgten. Die Energiekostenbudgetierung hat Dietmar Smyrek inzwischen auch vor einer finnlandweiten Expertengruppe vorgestellt. „Wenn man Menschen, die in einem deutlich anderen System an ähnlichen Themen arbeiten, die eigenen Prozesse erklärt, kommt man zu ganz neuen Erkenntnissen“, schwärmt er.
Die Nachfrage nach Austauschmöglichkeiten ist an beiden Universitäten groß, sowohl in den Instituten als auch in der Verwaltung. „Wir haben mehr Nachfrage als wir über das Erasmus+ Programm finanzieren können“, erklärt der Hauptberufliche Vizepräsident stolz. „In vielen Fällen finden wir dann zusätzliche Mittel und Wege.“