Untrennbar: Life Cycle Thinking und Nachhaltigkeit Am Beispiel der Automobilindustrie erklärt
Neben der Mobilität und dem Heizen und Kühlen von Gebäuden zählt die Industrie zu den größten Verursachern von Treibhausgasen. Während es mit dem Bau von Passivhäusern bzw. Niedrigenergiehäusern und der Elektrifizierung des Verkehrs Ansätze gibt, die Emissionen zu senken, erfordert die Dekabonisierung der Industrie ein Strategiebündel, um den vielfältigen verfahrens-, prozess- und fertigungstechnischen Anforderungen gerecht werden zu können. Im Zusammenspiel von Life Cycle Thinking und nachhaltiger Produktion sieht Professor Christoph Herrmann eine Methodik, um negative Umweltwirkungen bei der Technologieentwicklung zu vermeiden. Aus seiner Forschung berichtete er auf der Jahreskonferenz der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP).
Der Produktlebenszyklus beschreibt vier Phasen eines Produkts – beginnend bei der Rohstoffgewinnung über die Herstellung und Nutzung bis zum Produktlebensende. Alle Phasen haben Auswirkungen auf die Umwelt. Sie müssen demnach auch so gestaltet werden, dass sie möglichst wenig zur Beeinträchtigung der Umwelt beitragen. Diese ganzheitliche Sichtweise des Produktlebenszyklus nennt man „Life Cycle Thinking“.
Die Ökobilanz
„In allen Phasen des Lebenszyklus-Modells spielen Input-Output-Ströme eine Rolle“, sagt Professor Christoph Herrmann. Energie wird erzeugt, gewandelt und genutzt. Kommen fossile Energieträger zum Einsatz, fallen Treibhausgase an, Ressourcen werden eingesetzt oder recycelt. Alle Energie- und Stoffströme sowie Emissionen in Wasser, Luft und Boden lassen sich jeweils in einer Sachbilanz erfassen. Aus dieser Bilanz lässt sich eine Wirkungsabschätzung erstellen, zum Beispiel in Form des Treibhausgaspotentials „Global Warming Potentials (GWP)“, ein Indikator für den Klimawandel.
Professor Herrmann: „Auf diese Weise kann man erkennen, wo die größten Umweltwirkungen, sogenannte Hotspots, stattfinden. Dieses Vorgehen, also die Erstellung einer Bilanz, die Wirkungsabschätzung und die Interpretation der Daten aus der Wirkungsabschätzung nennt man Life Cycle Assessment (LCA), im Deutschen: Ökobilanz.“ Werden auf der Basis dieser Informationen neues Wissen generiert und neue Anwendungen entwickelt, spricht man von „Life Cycle Engineering“.
Anforderungen an die Methodik des Life Cycle Thinkings
Werden Innovationen, neue Produkte und Prozesse, mit dem Ziel einer höheren Nachhaltigkeit entwickelt, sollte es allerdings nicht zu einer Problemverschiebung kommen, zum Beispiel von der Nutzung in das Recycling. Wichtig ist für Professor Hermann an dieser Methodik auch die Vergleichbarkeit der Systeme und die Möglichkeit, variable zeitliche oder geografische Besonderheiten und technologische Bedingungen sowie Unsicherheiten, die sich beispielsweise aus der Anwendung von Modellen ergeben, zu berücksichtigen. Professor Herrmann:
„Es setzt sich immer mehr das Verständnis durch, dass Nachhaltigkeit nicht heißt, ökologische Ziele gegenüber sozialen und wirtschaftlichen Zielen abzuwägen, sondern anzuerkennen, dass ökologische Nachhaltigkeit – vor dem Hintergrund der Belastungsgrenzen der Erde – ein übergeordnetes Ziel sein muss.“
Ein Beispiel: Leichtbau für den Automobilbau
Leichtbau bedeutet weniger Masse und gleiche oder bessere Materialeigenschaften. Das kommt nicht nur dem Fahrzeug zugute – leichtere Autos schonen die Umwelt und den Geldbeutel des Fahrers. Allerdings weisen Leichtbaumaterialien wie Aluminium, Kunststoffe, Magnesium und Faserstoffe zumeist einen höheren CO2-Fußabdruck auf. Was muss unternommen werden, um zum Beispiel Faserstoffe wie Carbonfaser nachhaltiger herstellen zu können? Dazu forscht das Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik von Professor Herrmann gemeinsam mit der Deakin University in Australien an der Energie- und Ressourceneffizienz der Prozesskette: Über alle Prozessschritte – von der Stabilisierung des Materials, über die eigentliche Carbonisierung bis zur Oberflächenbehandlung – untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche Energieträger und Medien zum Einsatz kommen (Wasser, Strom, Stickstoff, Elektrolyt, Abluft etc.) und wie die Ressourcen- und Energieeffizienz gesteigert werden kann.
Um jedoch zu verstehen, wie sich diese neue Technologie in einem Gesamtsystem verhält, werden verschiedene Ausgangsmaterialien in einer konkreten Anwendung durchgespielt: Ein herkömmliches Bauteil wie ein Mitteltunnel (Batteriekästen, A-Säulen o.ä.) aus Stahl für eine Autokarosserie wird anderen Konstruktionen in Multi-Material-Leichtbauweise gegenübergestellt. Die Gewichtseinsparungen gegenüber der Stahl-Konstruktion sind deutlich, die Multi-Material-Bauweisen sind also in diesem Aspekt überlegen. In einem nächsten Schritt werden – ausgehend von den Ökobilanzen für die einzelnen Konstruktionen – die Global Warming Potential-Werte miteinander verglichen. Wie sich zeigt, kann in den Phasen der Rohstoffgewinnung und Produktion keine der Leichtbau-Alternativen mit einem optimalen GWP-Wert punkten; die Stahl-Konstruktion scheint die beste Lösung zu sein.
Ein differenzierteres Bild zeigt sich, wenn man die Nutzungsphase im Rahmen des Life Cycle Thinking in die Auswertung miteinbezieht: Welche Wirkung hat die Masseeinsparung bei einer Nutzung des Fahrzeugs über 200.000 Kilometern? Auf diesem Wege kann der Mehraufwand bei der Herstellung des neuartigen Mitteltunnels im Sinne der Nachhaltigkeit gerechtfertigt sein.
„Das Beispiel zeigt, dass die modellgestützte quantitative Bilanzierung die Grundlage für die Lenkung neuer Technologien ist“, sagt Professor Herrmann. Dabei würden computergestützte Tools künftig noch mehr an Bedeutung gewinnen.