„Meine Stadt-Vision: Wohnen, Arbeiten, Produzieren, Erholen“ Kolja Meyer über die Junior Research Group „Urban Flows and Production“
Die Craft-Beer-Brauerei in der Innenstadt, die Schokoladen-Manufaktur um die Ecke, das Brillengeschäft, das selbst die Gestelle herstellt – immer mehr Gründer*innen produzieren ihre Waren vor Ort. Und zwar in der Stadt. Doch wie können urbane Fabriken in städtische Umgebungen integriert werden? Und welche materiellen und immateriellen Stoffströme, wie Energie- und Informationsflüsse, sollten genutzt werden, um möglichst nachhaltig und emissionsarm zu produzieren? Damit beschäftigt sich die Junior Research Group „Urban Flows and Production“. Mit Dr. Kolja Meyer, Leiter der Nachwuchsforschergruppe, hat Bianca Loschinsky über die Möglichkeiten urbaner Produktion gesprochen.
Herr Meyer, was braucht eine Stadt, um auch als Ort der Produktion geeignet zu sein?
Ich würde die Frage tatsächlich anders herum stellen: Was braucht eine Fabrik, um in der Stadt agieren und koexistieren zu können? Städte und Produktion haben eine wechselhafte Geschichte. Vor der Industrialisierung wurde innerhalb der Städte produziert, jedoch ausschließlich handwerklich. Mit der Industrialisierung wurden Prozesse automatisiert. Das hat dazu geführt, dass Massenprodukte gefertigt und Produktionsstätten größer wurden. Diese fügten sich nicht mehr in ihre Umgebung ein.
Zahlreiche Maschinen sind inzwischen sehr viel günstiger und damit auch für kleinere Anwendungen möglich. Wenn man jetzt also einen Prozess automatisiert, kann man dennoch sehr individuell fertigen. Wir gehen also nicht wieder zurück in die Fabrik mit den rauchenden Schornsteinen und dem großen Zaun drum herum. Es wird eher eine Stätte, die von der Größe passt und mit ihrer Umgebung positiv interagiert.
Gib es bereits positive Beispiele in Braunschweig?
Da kann ich ein Projekt meines Vorgängers Max Juraschek hier am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF) nennen. Er hat sich mit der urbanen Produktion beschäftigt und am Rebenring die National-Jürgens-Brauerei (NJB) wieder etabliert. Dabei wendet er Techniken an, die er selbst als Forscher entwickelt hat, um mit der Umgebung positiv zu interagieren: Die Brauerei war einst ein traditionelles Unternehmen in Braunschweig, das dort, wo es jetzt auch ansässig ist, im Rebenpark produziert hat. Die Brauerei fertigt nicht für den Massenmarkt, sondern stellt handgemachtes Bier in kleinen Mengen her. Es ist also ein kleinskaliges Produkt, das in meinen Augen auch eine sehr hohe Qualität bietet im Gegensatz zu einem Bier aus einer Großbrauerei.
Wie sieht es in anderen Städten mit urbaner Produktion aus?
Auch international gibt es einige Beispiele wie Dresden Optics in Sydney, Australien. Die Firma stellt Brillengestelle her und versieht diese auch mit Gläsern. Das Unternehmen erfüllt einige Kernaspekte, die wir als Forschende an urbaner Produktion interessant finden. Beispielsweise nutzen sie als Rohstoffe für die Kunststoff-Gestelle Abfälle aus ihrer urbanen Umgebung. Die Kund*innen können auch selbst verschiedene Kunststoffabfälle mitbringen, die eingeschmolzen werden. Es wird mit Unternehmen zusammengearbeitet, bei denen solche Abfälle anfallen, beispielsweise Plastikdeckel von Bierfässern. Außerdem besteht für Kund*innen die Möglichkeit, in einer Mischung aus Fabrik und Geschäft, selbst zu erleben, wie produziert wird. So etwas haben wir meines Wissens in Braunschweig noch nicht.
Ich fände es sehr schön, wenn wir ein Unternehmen in dieser Art weiter ins Stadtzentrum bringen könnten. Das wäre auch eine Möglichkeit, dem Leerstand in Innenstädten zu begegnen. Eine Brille zu kaufen, die lokal vor meinen Augen hergestellt wird, ist ein ganz anderes Erlebnis, als wenn ich eine aus der Massenware auswähle.
Zu nennen ist auch noch die Waffel-Fabrik „Manner“ in Wien, die mitten in der Stadt liegt. Das Unternehmen wollte sich erneuern und hat sich entschieden, an seinem Standort zu bleiben, aber das möglichst positiv für die Umgebung. So ist das Parkhaus beispielsweise durch die Bewohner*innen in Zeiten mitnutzbar, in denen nicht produziert wird. Außerdem bieten sie Werksverkäufe an und alles ist ansprechend gestaltet, so dass es nicht wie ein Fremdkörper wirkt. Neben diesen „weichen“ Faktoren wurde auch die Produktion adaptiert: Das Fabriklayout wurde dahingehend angepasst, dass die Produktion über mehrere Stockwerke des Gebäudes durchgeführt wird. So wird aus der üblicherweise horizontalen Anordnung von Produktionsstrukturen eine vertikale Anordnung. Es steckt in der Entwicklung von urbanen Produktionssystemen also durchaus eine Menge Engineering.
Welche Formen urbaner Produktion gibt es und welche Branchen sind dafür geeignet?
In der Literatur werden immer vier unterschiedliche Industrieformen genannt: Zum einen „Personal Fabricators“. Diese produzieren in der Stadt für ihren eigenen Bereich. „Makerspaces und Fab Labs“ sind Räume, in denen sich mehrere Produzierende gemeinsam einen kleinen Maschinenpark teilen und gemeinsam produzieren. „Mini Factorys“ nennt man kleine und mittelständische Unternehmen mit bis zu 20 Mitarbeitenden. „Traditional Urban Industries“ sind Industrien, die in der Stadt schon vorhanden sein können, die aber eigentlich als urbane Fabriken geplant sind.
Grundsätzlich eignen sich alle Branchen, bei denen der Kontakt zwischen Produzierenden und Konsument*innen beiden Beteiligten einen Vorteil bringt, zum Beispiel in der Bekleidungsindustrie. Oder auch im Schmuckbereich. So kenne ich einen Juwelier in Hannover, der für die Herstellung von Ringen Wachsformen im 3D-Drucker druckt. Die Wachsform muss also nicht mehr per Hand hergestellt werden, was in europäischen Hochlohnländern auch gar nicht mehr möglich wäre. Dadurch kann der Juwelier individualisierte Produkte fertigen, aber trotzdem preislich konkurrenzfähig sein.
Ein weiterer relevanter Ansatz kann dadurch entstehen, dass die lokalen Bedürfnisse an Produkten durch urbane Produktion befriedigt wird. Hierdurch können Effekte wie die Reduzierung von Transportstrecken noch eine größere Wirkung entfalten, als bei alleiniger Produktion von Luxus- und Nischenprodukten. Zusätzlich würden bei ausschließlicher Produktion solcher Güter nur wenige Bewohner*innen der Stadt profitieren – was sicherlich die Akzeptanz von Produktion in der Stadt reduzieren würde.
Welche Chancen bietet urbane Produktion und welche Risiken?
Zunächst zu den Chancen: Es ist dringend notwendig, Emissionen zu reduzieren. Die Städte, unsere Lebensräume sind jedoch Emissionstreiber. Ein Großteil wird dadurch ausgestoßen, weil für die wirtschaftlich starken Räume der westlichen Städte produziert wird. Und: Gerade in Deutschland sind wir stark auf den Import von Rohstoffen angewiesen. Hier bieten urbane Fabriken viele Vorteile, indem beispielsweise Abfälle aus Produktionsstätten und den Haushalten vor Ort wieder verarbeitet werden.
Ein Risiko ist sicherlich eine mangelnde Akzeptanz der Umgebung. Wenn wir die Maßnahmen und Strategien, die wir gerade entwickeln, anwenden, kann man den Bewohner*innen jedoch die Ängste nehmen.
Wie kann die innerstädtische Produktion nachhaltig und emissionsarm gestaltet werden?
Einen Ansatz habe ich bereits genannt: die Nutzung der urbanen Materialströme zur Produktion von neuen Produkten. Einen anderen Ansatz ergibt sich aus der Nähe von Produzierenden und Konsument*innen. Produkte, die in Massenfertigung hergestellt werden, können nicht auf den wirklichen Bedarf reagieren. Hier führe ich gern den Haufen aus Fast Fashion und Designerkleidung an, der in der Atacamawüste in Chile immer größer wird. Wenn die Kleidung wieder näher an Konsument*innen produziert würde und die Kund*innen sich beispielsweise in einem Geschäft vermessen lassen und ihren angepassten Pullover erhalten, identifizieren sie sich mehr mit dem Produkt. Das bietet die Möglichkeit weniger, aber dafür bedarfsangepasst zu produzieren. Adidas hatte zum Beispiel 2014 einen Pop-up-Store in Berlin, in dem man sich vermessen lassen konnte. Dann wurde von Maschinen ein passender Pullover gestrickt. Die Konsument*innen wurden auch in das Design miteinbezogen. Sie konnten ein Garn wählen und bestimmen, wo welche Farbe benutzt werden sollte.
Wie viel kostete später der Pullover?
Der war leider noch zu teuer.
Was ist das Ziel der Junior Research Group?
Unser Ziel ist die Schaffung von Richtlinien zur Gestaltung urbaner Produktion.
Hier kommen dann auch die „urban flows“ ins Spiel.
Ein Prinzip, auf das wir uns aus den unterschiedlichen Disziplinen in unserer JRG geeinigt haben, ist die Nutzung urbaner „Flows“ für die Fertigung neuer Produkte, die Stoffströme oder materiellen und immateriellen Austauschbeziehungen einer Stadt. Wir entwickeln ein urbanes Ressourcenkataster, das die urbanen Stoffströme der Industrie und der Privathaushalte und teilweise auch der Gebäude beleuchtet. Nach technischen Kriterien bewerten wir, wie man das für die Produktion einsetzen kann.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
PET-Flaschen bieten sich an, diese direkt als Ressource zu nutzen statt als Abfall zu exportieren. Oder auch Holz von Baustellen, das zentral gesammelt und weiter genutzt werden könnte.
Immaterielle Flows sind unter anderem Energie- und Informationsflüsse. Die Abwärme industrieller Produktion kann beispielsweise in Fernwärmenetzen genutzt werden. Das passiert in Braunschweig auch schon in relativ großem Maßstab. Die Abwärme könnte man noch näher vor Ort nutzen, je nachdem welche Temperaturen bei den industriellen Prozessen vorliegen, um zum Beispiel Gewächshäuser zu beheizen. Wenn viel Energie durch erneuerbare Energien zur Verfügung steht, könnte sich die Produktion daran anpassen, so dass zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten jeweils entweder die Bürger*innen oder die Produktion mit Energie versorgt wird.
Es gibt hier eine Vielzahl an Möglichkeiten, die die JRG nicht allein untersuchen kann. Deshalb bin ich froh, dass unsere Nachwuchsgruppe im Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“ eingebettet ist, in dem sich verschiedene Wissenschaftler*innen mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die Stadt befassen und es sich dort sehr gute Anknüpfungspunkte für weitere Forschung bieten.
Sie haben sich in Ihrer Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz Universität Hannover (LUH) vor allem mit dem Fertigungsverfahren Festwalzen beschäftigt. Was hat Sie an die TU Braunschweig und zur JRG gebracht?
Ich habe mich in meiner bisherigen Forschung einerseits mit dem Einfluss von Fertigungsverfahren auf die Bauteilrandzone befasst. Dabei geht es um den Zustand des Volumenbereichs bis etwa 1.000 µm unter der Bauteiloberfläche. Durch eine gezielte Einstellung dieses Zustands kann die Bauteillebensdauer gesteigert werden. Bei gleicher äußerer Last können dadurch beispielsweise die Bauteile kleiner ausgelegt werden, was Material einspart. Im Vergleich zur Betrachtung ganzer Städte ist diese Skalierung ziemlich klein. Allerdings habe ich mich darüber hinaus auch mit der Gestaltung von Prozessketten basierend auf den möglichen Einsparungen befasst. Ebenfalls habe ich auch die Datengrundlage für energetische Bewertungen geschaffen. Der Fokus lag auch hier schon im weiteren Sinne auf der zukunftsweisenden Frage: Wie reduziere ich die Treibhausgasemissionen von Produktion?
Allerdings war diese Betrachtung bisher eher technisch. Mich persönlich hat neben meiner Ausbildung als Maschinenbauingenieur aber auch interessiert, wie die technologische Entwicklung sich auf die Gesellschaft auswirkt und mich gefragt, ob Forschung in diesem Bereich mit meiner Expertise als Produktionstechniker vereinbar ist.
2017 hat Professor Christoph Herrmann in meiner damaligen Wirkungsstätte am Produktionstechnischen Zentrum (PZH) in Hannover einen Vortrag über seine Vision der Zukunft der Produktionstechnik gehalten. Dabei habe ich gesehen, dass es möglich ist, beides zu vereinen: einmal die Entwicklung von Technologie und andererseits auch die Auswirkungen auf die Umgebung der Produktion und die Betrachtung des großen Ganzen. So war ich sehr glücklich, als zum Ende meiner Promotionszeit die JRG-Stelle ausgeschrieben wurde.
Wie bringen Sie Ihre Expertise aus dem Maschinenbau mit ein?
In meiner bisherigen Laufbahn habe ich gelernt, Probleme sehr gründlich zu betrachten und daraus auch Forschungsfragen abzuleiten. Das ist keine dem Maschinenbau genuine Eigenschaft, aber bei Professor Berend Denkena am PZH in Hannover wird das sehr gut gemacht. Ebenfalls wurde ich darauf vorbereitet, sehr strukturiert vorzugehen, was auch eine Maschinenbau-Eigenschaft ist, und wissenschaftliche Fragestellungen zu entwickeln und in Projektform zu gießen.
Aus welchen unterschiedlichen Disziplinen kommen Ihre Kolleg*innen in der JRG?
Meine Kollegin Grace Abou Jaoude hat einen Master in Architecture, Urbanism and Building Sciences der TU Delft und hat sich dabei vor allem auf den Bereich Urbanism fokussiert. Grace ist Mitarbeiterin am Institute for Sustainable Urbanism ISU von Professorin Vanessa Miriam Carlow. Sie betrachtet die Produktion aus der städtischen Perspektive, welche Regularien und Richtlinien es gibt und in welcher Form die Flows vorliegen und wie man sie darstellen kann.
Severin Görgens ist Wirtschaftsingenieur, der seinen Master an der Universität Duisburg-Essen abgeschlossen hat. Severin betrachtet die Produktionsseite am Lehrstuhl Fertigungstechnologien & Prozessautomatisierung des IWF von Professor Klaus Dröder. Er untersucht vor allem die Gestaltung der Prozessketten und die Auswahl geeigneter Produkte.
Für die Vielfalt der Fragestellungen ist es absolut notwendig, dass die bestehenden Strukturen aufgebrochen werden. Allein aus Maschinenbau- oder produktionstechnischer Sicht kann man dieser Herausforderung nicht begegnen. Genauso wäre dies allein aus der Stadtplanung heraus nicht zu lösen.
Wie sieht für Sie die Stadt der Zukunft aus?
Mein persönliches Anliegen: Der innerstädtische Bereich sollte nahezu autofrei sein. In meinen Augen ist der private Autoverkehr ein riesiger Störfaktor im innerstädtischen Leben. Gerade in einer Stadt wie Braunschweig ist alles zu Fuß, mit dem Rad oder durch öffentliche Verkehrsmittel erreichbar.
Der Stadt der Zukunft sollte eine größere Mischung haben – Wohnen, Arbeiten, Produktion, Erholung sollten weniger getrennt voneinander sein. Das versuche ich auch durch meine Forschung zu ermöglichen.