27. November 2019 | Magazin:

Literatur ist ein Raum für symbolisches Probehandeln 5 Fragen an Professor Jan Standke über gute Kinder- und Jugendbücher und das, was sie ausmacht

Jan Standke ist Professor für Didaktik der deutschen Literatur am Institut für Germanistik der Technischen Universität Braunschweig. Seit diesem Jahr ist er auch Vorsitzender der Kritikerjury des Deutschen Jugendliteraturpreises, der gerade auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wurde. Im Gespräch erklärt er, woran man gute Bücher erkennt, zum Beispiel bei der Suche nach Weihnachtsgeschenken für den Nachwuchs.

Bildnachweis: Kristina Rottig/TU Braunschweig

Herr Professor Standke, wer in der Buchhandlung nach Büchern für junge Leserinnen und Leser sucht, kann schnell den Überblick verlieren. 600 Titel sind allein in diesem Jahr für den Kinder- und Jugendliteraturpreis eingereicht worden. Wie schafft man es, als Jury so vielen Werken gerecht zu werden?

Über die Vergabe des Deutschen Jugendliteraturpreises wird von der Kritikerjury in vier Sparten entschieden: Kinder-, Jugend-, Bilder- und Sachbuch. Für jede Sparte gibt es zwei Jurymitglieder, die das große Angebot an Titeln eines jeden Preisjahres vorsondieren und dann in die Diskussion der Gesamtjury einbringen. Das Besondere der Kritikerjury besteht darin, dass in ihr Expertinnen und Experten zusammentreffen, die sich aus ganz verschiedenen Perspektiven mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. In der diesjährigen Jury arbeiten beispielsweise Kolleginnen aus der Wissenschaft, dem Journalismus, der schulischen und außerschulischen Literaturvermittlung und der Bibliothek. Am Ende bleiben dann zwanzig bis fünfundzwanzig Titel pro Sparte, die wir alle lesen und in mehreren Durchgängen sehr intensiv diskutieren. Und meine Erfahrung ist: Am Schluss kommen wir tatsächlich immer zu den besten Büchern.

Jungen lesen weniger gern als Mädchen – stimmt das, oder ist es nur ein Klischee?

Es stimmt zum Teil. In der Grundschule ist das Interesse an Literatur geschlechterübergreifend noch recht hoch. Vor allem das Vorlesen und die spielerisch-freudbetonte Herangehensweise an Literatur machen Spaß. Das ändert sich dann jedoch beim Übergang in die Sekundarstufe I, wenn der Umgang mit Literatur „akademischer“ wird. Leistungserwartungen sowie die Unterscheidung zwischen „richtigem“ und „falschem“ Verstehen von Literatur werden in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler zunehmend wichtig, da kann die Lesemotivation schon einmal auf der Strecke bleiben. Mit Beginn der Pubertät gibt es bei vielen Jugendlichen außerdem einen „Leseknick“, die Freude an fiktionaler Literatur schwindet zugunsten anderer Interessen. Mädchen erholen sich von diesen Entwicklungen tendenziell besser als Jungen, wobei Jungen natürlich auch lesen, aber eben nicht mehr so gern literarische Texte. Dies alles setzt aber voraus, dass Jungen und Mädchen über gut ausgeprägte Lesekompetenzen verfügen, die das Verstehen von Texten aller Art ermöglichen. Und in diesem Bereich gibt es durchaus größere Schwierigkeiten, die Schule allein nicht bewältigen kann.

Eine Besonderheit der schulischen Literaturbegegnung, die sich aus der Tradition der Schulformen in Deutschland ergibt, bleibt sicher nicht ohne Wirkung auf das Leseverhalten von Jungen und Mädchen: Vor allem in der Grundschule, aber auch schon in Kita und Kindergarten wird das Erleben von Literatur und Sprache größtenteils von Erzieherinnen und Lehrerinnen begleitet. Männer stellen in diesen Bildungsbereichen nach wie vor eine Minderheit dar. Vermutlich würden sowohl Schülerinnen als auch Schüler davon profitieren, wenn sie frühzeitig erkennen, dass Literatur nicht nur weiblich besetzt ist. An der TU Braunschweig registrieren wir, dass sich erfreulicherweise auch immer mehr Männer für das Grundschullehramt interessieren, obwohl die angehenden Lehrerinnen natürlich zahlenmäßig noch immer überwiegen. Etwas mehr Geschlechtervielfalt auch in diesem Bereich wäre sicher nicht von Nachteil. Und das ist nicht nur in der Lehrerbildung so: Auch in der Kritikerjury des Deutschen Jugendliteraturpreises bin ich der einzige Mann. Und das liegt sicher nicht an einer einseitigen Sicht des „Arbeitskreises für Jugendliteratur“.

Auch zu Hause kann etwas für das Lesen getan werden. Vorlesen ist das Einfallstor zur Lesekompetenz. Kinder, denen viel vorgelesen wird, haben bessere Voraussetzungen, später selbst gern und viel zu lesen. Besonders schön ist es, eine literarische Gesprächskultur in der Familie zu etablieren. Literatur liest man zwar häufig allein, aber hier endet das literarische Erleben nicht. Leselust sollte auch in Gesprächen, der so genannten Anschlusskommunikation, geteilt und vertieft werden.

Können junge Leserinnen und Leser auch mit komplexen Texten umgehen, und was macht für Sie ein gutes Jugendbuch aus?

Ich bin immer wieder fasziniert davon, mit wie viel Begeisterung und Souveränität sich Jugendliche und auch Kinder in vielschichtige literarische Welten hineinfinden. Ein Beispiel: Im Buch „Kompass ohne Norden“ von Neal Shusterman wird auf anspruchsvolle Weise von der Krankheit Schizophrenie erzählt, es gibt unterschiedliche Erzählebenen und komplexe sprachliche Bilder. Sowohl von uns als auch von der Jugendjury wurde es nominiert, von den Jugendlichen sogar ausgezeichnet. Das zeigt, wie anspruchsvoll jugendliche Leserinnen und Leser heutzutage sein können.

Wichtig ist: Einerseits müssen die Themen der Literatur für Jugendliche relevant sein, zum Beispiel die Fragen thematisieren: Wer bin ich? Wie gehe ich mit sexueller Orientierung um? Wie ist das Verhältnis zu Erwachsenen geregelt? Oder: Wie kann man eigentlich heute noch ein Held sein? Die Szenarien, die in der Literatur erzählt werden, müssen dabei nicht aus der unmittelbaren Lebenswelt der Jugendlichen stammen. Die Annahme einer untergegangenen Welt kann zum Beispiel ein ganz toller Kontext sein. Auch Figuren aus dem martialischen Bereich an der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind spannend. Was in einer von Zombies bedrohten Welt passiert, verstehen Jugendliche durchaus als metaphorischen Ausdruck für reales Geschehen. Literatur ist ein Raum für symbolisches Probehandeln. Hier kann man sich auch mal in Figuren hineinfühlen, denen etwas Schreckliches passiert. Es schwingt immer der Gedanke mit: Auch wenn mit Zombies mittelfristig nicht zu rechnen sein sollte – ganz unmöglich ist es nicht, dass Dinge geschehen, die unsere Gesellschaft tief erschüttern. Man gehe nur mit offenen Augen durch unsere Welt. In der Literatur wird das alles probehalber zugänglich. Und Erwachsene haben ja schließlich auch Lust am Schrecklichen und Grenzwertigen. Schauen Sie sich allein den Erfolg der Thriller von Sebastian Fitzek an. Zugleich kann Literatur natürlich auch an die schönen Dinge des Lebens heranführen. Thriller und Liebesgeschichte sollen hier keineswegs gegeneinander ausgespielt werden.

Andererseits: Für mich ganz persönlich ist auch entscheidend, dass ein Buch sprachlich-ästhetische Erfahrungen ermöglicht, die im Alltag nicht an jeder Straßenecke zu haben sind. Wenn ein Buch relevante Themen verhandelt, Unterhaltung bietet, zum Nachdenken anregt und zudem sprachlichen Genuss ermöglicht, dann haben wir ein gutes Buch in den Händen. Und davon gibt es eine ganze Menge.

Was halten Sie von dem Trend, dass Büchertitel zusätzlich in Form von weiteren Produkten vermarktet werden?

Erfolgreiche Kinder- und Jugendtexte kommen inzwischen oft im Medienverbund auf den Markt: Zu einem Buch gibt es Spielfiguren, Kleidung, Brettspiele, Filme, Apps – ein ganz großer Kosmos. Man kann das sicher unterschiedlich bewerten, für das literarische Lernen ergeben sich aber auch Chancen: An der TU Braunschweig machen wir uns die mediale Vielfalt der Literatur in der Lehrerbildung zu Nutze. Das ist u.a. in Zeiten von Inklusion und Differenzierung sehr interessant. Über die verschiedenen Medien können wir nämlich ganz unterschiedliche Schülerinnen und Schüler ansprechen und an die Literatur heranführen.

Eine andere Frage, die aus der Digitalisierung von Literatur hervorgeht und für die wir uns an der TU Braunschweig sehr interessieren: E-Book oder gedrucktes Buch? In meiner Vorlesung machen ich regelmäßig eine Umfrage zum Leseverhalten. Das Ergebnis: Von hundert Studierenden lesen nur etwa 10 Prozent literarische Texte ausschließlich im digitalen Format, etwa 20 Prozent lesen digital und analog, 70 Prozent der Studierenden lesen Literatur nach wie vor nur als gedrucktes Buch. So halten es die Jugendlichen und Erwachsenen auch. Das ist ein durchaus interessanter Befund, wie ich finde. Hinzu kommt: Neuere Studien legen nahe, dass das vertiefte Verstehen von Texten, wie es für literarische Texte erforderlich ist, am besten mit gedruckter Literatur gelernt werden kann. Wie das Neben- und Miteinander von digitaler und gedruckter Literatur im Unterricht zukünftig zu behandeln ist, das ist für uns eine ganz wichtige Forschungsfrage.

Haben Sie Tipps für Erwachsene, die Kindern oder Jugendlichen ein Buch schenken wollen?

Ein gutes Buch erkennt man selten von außen. Die Verlage investieren jedoch sehr viel Energie und Geld in das Marketing. Gender-Marketing zum Beispiel, also typischerweise rosa Prinzessinnen für Mädchen, Piraten und Raumschiffe für Jungen, das gibt es natürlich auch im Buchhandel. Natürlich sind gute Verkaufszahlen und hohe Auflagen nicht automatisch Garanten für literarische Qualität. Auch bei der seriellen Literatur, zum Beispiel über verliebte Vampire und andere magische Wesen, bei denen zwölf Bände in kurzer Folge auf den Markt kommen, ist die Gefahr groß, dass man nur literarisches Fastfood abgreift.

Konkrete, altersbezogene Empfehlungen, auf die man sich verlassen kann, finden sich auf den Nominierungslisten des Deutschen Jugendliteraturpreises. Die diesjährigen Preisträger sind natürlich ein ganz heißer Lektüretipp. Und die besten Ratgeber zum Jugendbuch sind nach wie vor gut informierte Buchhändlerinnen und Buchhändler, aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Bibliotheken.