Linarit: Vom mineralogischen Sammlerstück zum frustrierten „Quantenmagneten“ Neue Einsichten über ein altes Material in „Physical Review Letters“ veröffentlicht
Neue und unerwartete Einblicke in die moderne Festkörperphysik, genauer auf dem Gebiet der so genannten frustrierten Quantenmagneten, erlangte ein Forschungsteam um Prof. Stefan Süllow vom Institut für Physik der Kondensierten Materie. Untersucht wurden die physikalischen Eigenschaften von Linarit. Dabei handelt es sich um ein seltenes, natürliches Mineral, das wegen seiner leuchtend blauen Kristalle bei Sammlern sehr beliebt ist. Künftig wird das Mineral jedoch auch für die Forschung und die Entwicklung interessant sein, wie das Team nun herausgefunden hat.
Vor knapp 200 Jahren wurde das natürliche Mineral Linarit, mit der chemischen Formel PbCuSO4(OH)2, das erste Mal beschrieben. Selten kommt es vor und ist vor allem bei Sammlern sehr beliebt. Es besitzt leuchtend blaue Kristalle, die es in der Erdkruste, unter großem Druck ausformt. Aus rein physikalischem Interesse ist nun ein Forschungsteam um Prof. Stefan Süllow auf das Mineral aufmerksam geworden. Gemeinsam mit Dr. Britta Willenberg vom Helmholtz-Zentrum Berlin und Dr. Anja Wolter vom Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden konnte die Existenz exotischer magnetischer Phasen in dem Mineral nachgewiesen werden. Veröffentlicht haben sie ihre Ergebnisse im hochrangigen Physik-Journal „Physical Review Letters“.
Untersucht hat das Forschungsteam um den Braunschweiger Quantenphysiker speziell die magnetischen Phasen des Linarit. Das geschah unter extremen Bedingungen, bei sehr tiefen Temperaturen im Bereich von einem Kelvin, circa minus 272 Grad Celsius, sowie in Magnetfeldern von bis zu 10 Tesla, was ungefähr dem 200.000 fachen des Erdmagnetfeldes entspricht. Mit Hilfe zweier experimenteller Techniken, der Neutronenstreuung sowie die Kernspinresonanz, bestimmten sie die Anordnung der magnetischen Momente und stellten fest, dass Konkurrenzeffekte verschiedener magnetischer Anordnungen zu einem sehr komplexen magnetischen Verhalten innerhalb des Minerals führten: der sogenannte „magnetische Frustration“.
Das Team konnte insbesondere eine Phase identifizieren, in der die magnetischen Momente quasi ihre „Individualität“ verlieren und in neuartigen kollektiven Zuständen aufgehen: „Dieses Verhalten lässt sich nur mittels moderner Quantenphysik verstehen, und spiegelt sich in einer Reihe von spektakulären physikalischen Effekten wieder wie beispielsweise der Bose-Einstein-Kondensation“, erklärt Prof. Süllow. Darüber hinaus, so der Quantenphysiker weiter, führten derartige magnetische Phasen zu ungewöhnlichen strukturellen Effekten. Es entstehen „Multiferroika“, bei denen die magnetischen und strukturellen Eigenschaften stark gekoppelt sind. Sie könnten in der modernen Materialforschung perspektivisch als Sensor eingesetzt werden.
Die internationale Kooperation, die mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde, nahm ihren Anfang in Braunschweig: Die mittlerweile in Berlin und Dresden forschenden Wissenschaftlerinnen an der Technischen Universität Braunschweig zu Doktorinnen der Physik promoviert und für ihre Arbeiten geehrt: Im Jahr 2014 wurde Britta Willenberg mit dem Walter-Kertz-Preis der Fakultät für Elektrotechnik, Informationstechnik, Physik ausgezeichnet und Anja Wolter ist seit 2008 Trägerin des Heinrich-Büssing-Preises.