9. Dezember 2020 | Magazin:

Künstliche Gewebe für die Arzneimittelforschung Professor Stephan Reichl über seine Forschung in der Pharmazeutischen Technologie und Biopharmazie

Wie Arzneistoffe in den menschlichen Körper gelangen können und sich dort verteilen, erforscht Stephan Reichl mit seiner Arbeitsgruppe am Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie der Technischen Universität Braunschweig. Dafür entwickelt das Team auf der Basis von menschlichen Zellen künstliches Gewebe. Stephan Reichl wurde zum 1. November 2020 zum Universitätsprofessor ernannt und stärkt mit seiner Forschung den Forschungsschwerpunkt „Infektionen und Wirkstoffe“. Im Interview erzählt er uns mehr zu Tissue Engineering, Organ-on-a-Chip-Systemen und was ihn an seiner Forschung begeistert.

Professor Stephan Reichl forscht mit seiner Arbeitsgruppe am Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie. Bildnachweis: Marisol Glasserman/TU Braunschweig

Professor Reichl, Sie forschen und lehren im Bereich der Pharmazeutischen Technologie und Biopharmazie. Was können wir uns darunter vorstellen?

Die Pharmazeutische Technologie befasst sich mit den Arzneiformen. Also zum Beispiel mit der Frage: Wie bringe ich einen Arzneistoff in eine Form, sodass ich ihn einnehmen, auftragen oder injizieren kann? Die Vorgänge, die dann im Körper stattfinden, also das, was der Körper mit dem Arzneistoff macht, das nennt man Biopharmazie. Dabei wird erforscht, wie, in welchem Ausmaß und mit welcher Geschwindigkeit der Arzneistoff in den Körper gelangt, wie er verteilt, verstoffwechselt und ausgeschieden wird. Was daraus resultiert, das kennt man umgangssprachlich auch unter dem Begriff „Blutspiegel“. Die Wirkung eines Arzneimittels ist nicht nur vom Wirkstoff abhängig, sondern auch von der Arzneiform, wie der Stoff in den Körper aufgenommen wird und welche Geschwindigkeiten die Prozesse dort haben.

Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeitsgruppe liegt im Bereich des sogenannten Tissue Engineerings. Das heißt, Sie entwickeln auf der Basis von menschlichen Zellen künstliches Gewebe, um damit an Wirkstoffen zu forschen. Warum machen Sie das?

Um das zu beantworten, will ich kurz auf die Entwicklung von Arzneimitteln eingehen. Der Prozess gliedert sich nach der Wirkstoffentdeckung nämlich in eine präklinische und mehrere klinische Phasen. In der präklinischen Phase werden Wirkstoffe und Arzneiformen im Zell- und Tiermodell untersucht und ausgewählt, bevor sie dann in der klinischen Phase am Menschen getestet werden. Der Einsatz von Tierversuchen hat eine Reihe von Nachteilen. Da sind natürlich zum einen die ethischen Aspekte, das ist ganz klar. Außerdem sind Tiere dem Menschen nur bedingt ähnlich. Das heißt, dass sich die Ergebnisse, die wir durch solche Tiermodelle generieren, nicht immer gut auf den Menschen übertragen lassen. Außerdem sind Tiermodelle relativ kostenintensiv.

Unsere Idee ist – dort, wo es geht – Tierversuche zu reduzieren oder sogar zu ersetzen. Dafür rekonstruieren wir auf Basis von humanen, also menschlichen, Zellen künstliches Gewebe und untersuchen damit, wie Wirkstoffe in unseren Körper kommen, und wie sie dort transportiert werden. Solche künstlichen Gewebe könnten in Zukunft anstatt der Tiermodelle in präklinischen Untersuchungen eingesetzt werden, um Arzneimittel zu testen.

Haben Sie sich auf spezielle Gewebe fokussiert?

Wir interessieren uns für die Barrieren des Körpers und wie diese mit der Arzneiform interagieren. In unserem Fokus liegt deshalb die Augenhornhaut, daneben aber auch der Darm, die Nasenschleimhaut oder die Blut-Hirn-Schranke. Solche Barrieren versuchen wir mithilfe der Gewebezüchtung nachzubilden und zu charakterisieren. Wir untersuchen, ob und wie sich das künstliche Gewebe vom Originalgewebe unterscheidet.

Der wichtigste und gleichzeitig auch schwierigste Punkt dabei ist die Validierung: Kommt bei unseren Versuchen immer das gleiche Endergebnis heraus und wie ähnlich ist das künstliche Gewebe zum Menschen? Nur durch solche Untersuchungen haben die Ergebnisse später die Chance, von einer Behörde anerkannt zu werden. Es kann auch schon mal Jahrzehnte dauern, bis es so weit ist, dass so ein Gewebe zugelassen und eingesetzt werden kann.

Wie kann man sich die Herstellung von künstlichem Gewebe aus menschlichen Zellen vorstellen?

Wir arbeiten bei unseren Zellkulturen vorrangig mit immortalisierten Zelllinien. Das sind Zellen, die aus menschlichem Gewebe entnommen und gentechnisch so verändert wurden, dass sie stark vermehrt werden können, ohne abzusterben. Dadurch sind sie immer wieder kultivierbar, anders als sogenannte Primärzellen, die nicht gentechnisch verändert sind. Was man dabei berücksichtigen muss, ist, dass sich die immortalisierten Zellen oft ein wenig anders verhalten als Primär- oder Stammzellen. Das ist aber für unseren Forschungszweck in den meisten Fällen tolerierbar. Die immortalisierten Zelllinien kultivieren wir im Labor auf einem geeigneten Substrat zu dreidimensionalen Gewebekonstrukten und setzen diese dann für unsere Forschung mit Wirkstoffen und Arzneiformen ein.

Kann man diese Gewebe mit bloßem Auge sehen?

Ja, das Gewebe, was wir züchten, ist makroskopisch sichtbar. Die einzelnen Zellen kann man natürlich nur mikroskopisch erkennen. Aber das, was wir daraus konstruieren, ist dann genauso groß, wie das Originalgewebe, zum Beispiel unsere Augenhornhaut. Dazu muss man aber sagen, dass bei anderen Geweben wie der Leber oder der Darmschleimhaut, das künstliche Gewebe nicht so groß wie das Original wäre. Das liegt daran, dass es äußerst schwierig ist, Blutgefäße zu rekonstruieren. Und wenn das Gewebe nicht durchblutet wird, stirbt es ab. Das ist immer noch das größte Problem in der Gewebezüchtung.

Sie arbeiten in verschiedenen Projekten am Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik (PVZ) mit dem Institut für Mikrotechnik zusammen. Dabei geht es um Organ-on-a-Chip-Systeme. Was ist das?

Bei Organ-on-a-Chip-Systemen bringen wir die künstlichen Gewebe in kleine Chipsysteme ein. Das hat mehrere Vorteile. Zum einen kann man die Strömung der Flüssigkeiten in den Chipsystemen so generieren, wie sie in vivo, also im lebenden Organismus, auch ist. Man kann zum Beispiel den Tränenfluss nachbilden. Zum anderen sind die Chipsysteme so konstruiert, dass man mit kleineren Mengen an Wirkstoff arbeiten kann. Das ist für Pharmaunternehmen hilfreich, weil sie am Anfang der Forschungsarbeiten oft noch nicht viel Wirkstoff haben. Unsere langfristige Idee ist, mehrere solcher Organ-on-a-Chip-Systeme so zu kombinieren, dass man einen Multi-Organ-Chip erhält. Damit könnte man dann unterschiedliche Versuche am Tier gut abbilden.

Woran forschen Sie gerade bei Organ-on-a-Chip-Systemen?

Im Projekt „Ocular DynaMiTES“ entwickeln wir eine künstliche Augenhornhaut als Modell so weiter, dass damit Arzneimittel zur Anwendung am Auge zuverlässig getestet werden können. In einem anderen Projekt erforschen wir ein Modell der Nasenschleimhaut, um neue Darreichungsformen zu erproben und eine bessere Wirksamkeit von Arzneimitteln zu erreichen.

Zum Abschluss noch die Frage: Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?

Was wahrscheinlich viele Forschende umtreibt, ist die Freude daran, etwas Neues zu entdecken. Das ist bei mir natürlich auch so. Ich finde es aber auch schön, dass man stetig dazulernt, Expertise aufbaut und diese mit anderen teilen kann. Wissen zu teilen – mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch mit der Öffentlichkeit – ist für mich ein sehr wichtiger Teil von Wissenschaft. Man betreibt seine Forschung ja nicht nur für sich alleine, sondern damit alle einen Gewinn davon haben.

Was mich auch begeistert ist, wenn man eine Nuss, die man lange nicht knacken konnte, endlich geöffnet hat. Wenn zum Beispiel ein Doktorand lange an einem Problem arbeitet, dann eine Lösung findet und davon mit leuchtenden Augen erzählt. Das sind schöne Momente, und das macht auch die Rückschläge, die natürlich dazugehören, wett.

Vielen Dank für das Interview.