7. Juni 2021 | Magazin:

Kann Sprache gerecht sein? Linguist Professor Martin Neef zum Gendern

Studenten, StudentInnen, Student:innen, Student*innen, Studierende, Student/in oder Studentys? Sind diese Schreibweisen Ausdruck einer sich verändernden Gesellschaft? Sind sie politisch motiviert? Und wer bestimmt überhaupt, wie geschrieben wird? Über gendergerechte Sprache wird momentan viel diskutiert. Wir möchten diese Debatte aufgreifen und haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit der deutschen Sprache in ihrer Forschung auseinandersetzen, und weitere Mitglieder der TU Braunschweig gefragt, was für sie gutes Deutsch ist, wie und ob Sprache gerecht sein und welche Werte sie erfüllen kann. Ein Beitrag von Martin Neef, Professor für Germanistische Linguistik am Institut für Germanistik.

Professor Martin Neef. Bildnachweis: János Krüger/TU Braunschweig

Ich beantworte die folgenden Fragen nicht als jemand, dessen Muttersprache Deutsch ist, sondern als Professor für Germanistische Linguistik, der sich seit über 30 Jahren wissenschaftlich mit der deutschen Sprache als Forschungsgegenstand auseinandersetzt. Gendern ist für mich keine weltanschauliche Frage, sondern eine wissenschaftliche.

Was ist für Sie gutes Deutsch?

Für mich als Linguisten ist gutes Deutsch zunächst einmal korrektes Deutsch. Für Fragen der Rechtschreibung gibt es hierzu eine verbindliche Amtliche Regelung; für die mündliche und schriftliche Textproduktion darüber hinaus gibt es diverse Grammatiken, aus denen sich weitgehend geteilte Annahmen zu grammatischer Richtigkeit ableiten lassen. Wenn es dann mehrere korrekte Optionen zum Ausdruck eines bestimmten Sachverhalts gibt, ist es eine Frage des Stils, welche gewählt wird, und das kann dann als besser oder weniger gut empfunden werden. Das ist aber nicht meine Fragestellung, damit befassen sich z.B. Literaturwissenschaftler. Beim Gendern rückt orthographische und grammatische Korrektheit oft in den Hintergrund, was ich bedauerlich und eigentlich auch erstaunlich finde. Formulierungen wie ‚Die*der Bewerber*in‘, wie man sie auch in offiziellen Texten der TU findet, sind grammatisch und orthographisch falsch.

Ich wundere mich, wie schnell man in diesem Bereich bereit zu sein scheint, den Konsens orthographischer und grammatischer Richtigkeit aufzugeben, den wir ansonsten doch gerade an der Universität hochhalten. Im Privatbereich oder als Künstler kann man auch gezielt gegen sprachliche Korrektheit verstoßen und mit Sprache spielen. Das bleibt aber ein Spiel (das klug reflektiert oder plump nachgeahmt durchgeführt werden kann); es ändert nicht Aspekte der sprachlichen Korrektheit.

Soll/kann Sprache gerecht sein?

Der Ausdruck ‚Sprache‘ wird in unterschiedlicher Weise benutzt; als Sprachwissenschaftler unterscheiden wir zumindest drei Konzepte, die im Alltag vereinfachend ‚Sprache‘ genannt werden, die aber von sehr unterschiedlicher Art sind: Eine Sprache für sich genommen ist ein abstraktes Objekt, das außerhalb von Maßstäben der Gerechtigkeit steht. Dieses Konzept von Sprache nenne ich Sprachsystem; mein primärer Forschungsgegenstand ist das Sprachsystem des Deutschen. Menschen wissen etwas über solche Sprachsysteme, zumindest über ihre Muttersprache; dieses Sprachwissen als zweites Konzept von Sprache ist ein mentales Konzept, das nach meinem Dafürhalten ebenfalls keinen Maßstäben von Gerechtigkeit unterliegt.

Anders sieht dies auf der dritten Ebene aus. Menschen benutzen ihr Sprachwissen in Handlungen, vor allem in der Kommunikation, und dieses Konzept von Sprache als Sprachgebrauch kann als empirisches Objekt durchaus nach Kategorien von Gerechtigkeit bewertet werden. Genau genommen sind es Menschen, die in ihrem sprachlichen Handeln (wie in ihrem Handeln generell) mehr oder weniger gerecht vorgehen oder, wichtiger noch, als mehr oder weniger gerecht empfunden werden. Gerechtigkeit ist dabei am ehesten eine moralische Kategorie, für die allgemeinverbindliche Maßstäbe zu finden schwer ist. Der Sprachgebrauch wird jedenfalls nicht einfach dadurch ‚gerecht‘, dass ihre Produzenten ihn ‚geschlechtergerecht‘ nennen. Das ist erstmal nur ein geschickt gewähltes Label zur Selbstvermarktung, das misstrauisch machen sollte.

Aus linguistischer Sicht lassen generische Lesarten von Substantiven mehr Gerechtigkeit im Gebrauch erwarten als viele gegenderte Formen, weil mit ihnen, wie die Charakterisierung als ‚generisch‘ anzeigt, alle Geschlechter angesprochen werden können, z.B. durch die Person, der Mensch, das Wesen. Hierzu zählen auch Wörter wie Teilnehmer und Dieb. Movierte Substantive dagegen, die im Deutschen wie Teilnehmerin meist mit dem Suffix –in enden, lassen nur eine geschlechtsspezifische Lesart zu (hier den Bezug auf weibliche Personen). Es ist nur eine Behauptung von Befürwortern des Genderns, dass Wörter wie TeilnehmerIn oder Teilnehmer*in auch Männer ansprechen sollen; nach den Struktureigenschaften des deutschen Sprachsystems erlauben diese Wörter nur eine geschlechtsspezifische Lesart; Personen der Geschlechter männlich und divers werden so ausgegrenzt. Deshalb argumentiere ich gegen viele verbreitete Formen des Genderns.

Welche Werte soll/kann Sprache erfüllen?

Nur auf der Ebene des Sprachgebrauchs können Werte erfüllt werden; es sind also die Menschen, die in ihrem Gebrauch von Sprache nach Wertmaßstäben befragt werden können, es ist nicht die Sprache als System. Von daher ist das kein Aspekt, zu dem ich mich als Systemlinguist fundiert äußern kann. Ich kann mich aber sehr wohl zu der Frage äußern, welche Werte wir in unserem Diskurs über Sprache erfüllen sollten, also zur Frage, wie wir über Sprache reden. Wie Personenbezeichnungen gestaltet werden können, welche Formen zur Verfügung stehen und was sie bedeuten, ist zunächst eine sprachbezogene Angelegenheit. Hierzu ist die Sprachwissenschaft die zuständige Disziplin, und ich würde es für selbstverständlich halten, dass man bei allen diesbezüglichen Fragestellungen zunächst linguistischen Sachverstand einholt. Das geschieht aber erstaunlich selten. Häufiger vertrauen linguistische Laien ihren eigenen Intuitionen und machen Vorschläge, die z.B. in juristische Texte eingehen und damit erhebliche Konsequenzen haben, ohne wissenschaftlich haltbar zu sein. Häufiger wird Psychologen vertraut, die aber nicht über sprachsystematische Grundlagen nachdenken, sondern auf empirischem Weg Assoziationen erheben, die Menschen im Umgang mit Sprache haben, weil ihr Gegenstand die menschliche Psyche ist. Aus solchen Studien (die zwangsläufig nur mit begrenztem Sprachmaterial arbeiten können) ergibt sich seit mehr als 20 Jahren regelmäßig, dass Menschen bei Personenbezeichnungen in Form generischer Maskulina stärker an Männer als an Frauen denken (keineswegs aber ausschließlich); es ergibt sich aber nicht, dass es – abgesehen von Beidnennung – diesbezüglich ‚bessere‘ Formen gibt, auch wenn solche Studien gerne zur Begründung der Nutzung des Gendersterns herangezogen werden. Als Linguist betreibe ich auf dieser Basis lieber Aufklärung über die tatsächliche Leistungsfähigkeit generischer Personenbezeichnungen, als problematische Vorschriften zur Änderung der sprachlichen Wirklichkeit zu formulieren.