16. Februar 2023 | Magazin:

Gewebeübergänge regenerieren Protein-freisetzendes Implantat soll neue Behandlung bei Abrissen von Sehnen-Knochen-Übergängen ermöglichen

Reißt die Sehnen-Knochen-Verbindung in der Rotatorenmanschette der Schulter, beginnt eine lange Leidenszeit. Oftmals muss die Sehne wieder operativ mit dem Knochen vernäht werden. Da es in manchen Fällen durch degenerative Vorgänge zu einem Gewebeverlust kommt, der die Wiederherstellung des Übergangs erschwert, arbeitet ein Verbundprojekt der Technischen Universität Braunschweig, der Leibniz Universität Hannover und der Medizinischen Hochschule Hannover an einer neuen Behandlungsmethode. Durch den Einsatz eines Protein-freisetzenden Implantats soll sich das Gewebe an der gerissenen Sehnen-Knochen-Verbindung regenerieren. Leonie Berten-Schunk, Doktorandin am Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie gibt einen Einblick in die Arbeit des Forschungsvorhabens.

Leonie Berten-Schunk untersucht das Freisetzungsverhalten der therapeutischen Proteine auf dem Implantat. Bildnachweis: Max Fuhrmann/ TU Braunschweig

Wenn die Verbindung zwischen Sehnen und Knochen reißt, ist das nicht nur schmerzhaft, sondern oft auch mit lebenslangen Funktionseinschränkungen verbunden. Die bisher übliche Behandlung für Rupturen, wie sie häufig in der Rotatorenmanschette der Schulter vorkommen, ist eine konservative Therapie oder die Refixation (Wiederannaht) der Sehne an den Knochen. „Diese operative Behandlung ist in manchen Fällen mit Schwierigkeiten verbunden“, erklärt Leonie Berten-Schunk, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie. „Oft ist nur wenig Gewebe verblieben, um die Sehne am Knochen zu fixieren. Dies ist gerade bei degenerativ-bedingten Abrissen der Fall.“

Geweberegeneration durch wachstumsfördernde Proteine 

Darum forscht die interdisziplinäre DFG-Forschungsgruppe „Gradierte Implantate für Sehnen-Knochen-Verbindungen – FOR 2180“, an der Arbeitsgruppen der TU Braunschweig, der Leibniz Universität Hannover und der Medizinischen Hochschule Hannover beteiligt sind, an einem Implantat, das mithilfe therapeutischer Proteine (Wachstumsfaktoren) die Regeneration der Sehnen-Knochen-Verbindung ermöglichen soll. Ziel ist es, zunächst den entstandenen Gewebedefekt zwischen Knochen und Sehne mit dem Implantat auszugleichen, sodass die mechanische Funktion wiederhergestellt wird. In einem zweiten Schritt sollen wachstumsfördernde Proteine den Körper dazu anregen, neues Gewebe am Übergang der Sehne zum Knochen zu bilden.

Als Trägermaterial dienen elektrogesponnene Fasermatten. Diese ähneln einem sehr feinen Vlies und bestehen aus Polymerfasern, deren Durchmesser im unteren Mikrometerbereich liegt. Die Fasermatten werden mit verschiedenen Wachstumsfaktoren räumlich gradiert beladen, die den Körper zur Bildung neuen Gewebematerials anregen sollen. Das für die Herstellung des Fasergerüstes verwendete Polycaprolacton ist bioabbaubar, kann sich also im Körper auflösen, sodass die Materialentfernung entfällt.

Einsatz auf kompliziertem Terrain

Der Abriss einer Sehnen-Knochen-Verbindung ist oft auf altersbedingte Degeneration oder aber traumatische Verletzungen zurückzuführen. Die degenerative Ruptur kommt besonders häufig in der Schulter vor, daher konzentriert sich die Forschung im Verbundprojekt zunächst auf den Sehnenabriss in der Rotatorenmanschette der Schulter. Die besondere Herausforderung bei deren Therapie ist, den Anforderungen der unterschiedlichen Gewebestrukturen am Knochen-Sehnen-Übergang gerecht zu werden. Es handelt sich um einen Gewebegradienten, der von Sehnen- über Knorpel- bis hin zu Knochengewebe verläuft und damit die besonderen Eigenschaften des Sehnen-Knochen-Übergangs ermöglicht. Dazu soll das neuartige Implantat der Forschungsgruppe sowohl in seiner Struktur gradiert sein als auch lokal mit unterschiedlichen wachstumsfördernden Proteinen beladen werden. „Sehnen haben eher langgestreckte Strukturen, wohingegen Knochen eher diffus strukturiert sind. Der Implantatprototyp ist daran angepasst, um das Einwachsen neuer Zellen zu erleichtern“, erklärt Leonie Berten-Schunk. „Außerdem haben die unterschiedlichen Wachstumsfaktoren jeweils eine andere Aufgabe. Sie differenzieren die Stammzellen des Körpers zu Knochen-, Knorpel- oder Sehnenzellen.“

Freisetzungsverhalten im Fokus

In sieben Teilprojekten werden die Machbarkeit und Eigenschaften des neuen gradierten Implantats untersucht. Die Arbeit des Projekts reicht von der Herstellung der Fasermatte als Grundlage des Implantats über die Herstellung und das Auftragen der Wirkstoffproteine bis hin zur Überprüfung des Freisetzungsverhaltens in ersten In vitro-Tests. Das Projekt ist dabei stark interdisziplinär ausgerichtet. Wissenschaftler*innen aus verschiedensten Fachrichtungen wie beispielsweise der Biologie, Chemie, Pharmazie, Veterinärmedizin, als auch Forscher*innen aus den Ingenieurwissenschaften forschen gemeinsam an dem Implantat.

Das Freisetzungsverhalten der therapeutischen Proteine zu untersuchen, ist die Aufgabe von Leonie Berten-Schunk im Teilprojekt 6 der Forschungsgruppe, das sich aus den Arbeitsgruppen von Professorin Heike Bunjes an der TU Braunschweig und Professorin Andrea Hoffmann an der Medizinischen Hochschule Hannover zusammensetzt. „Wir untersuchen, wie die Wachstumsfaktoren über den Therapieverlauf freigesetzt werden und wie viele der Proteine überhaupt aktiv die Heilung unterstützen“, so Leonie Berten-Schunk. „Proteine sind anspruchsvolle Wirkstoffe. Sie stellen besondere Forderungen an ihre Umgebung. Werden diese nicht erfüllt, verlieren sie ihre therapeutische Wirkung. Das macht die Untersuchung des Freisetzungsverhaltens so wichtig. Vereinfacht gesagt, überprüfen wir, ob die Proteine auf dem Implantat und bei der Freisetzung im physiologischen Milieu die richtigen Bedingungen vorfinden, um ihre Wirkung zu entfalten. Außerdem passen wir in In vitro-Tests die Wirkstoffdosis für verschiedene Anwendungen an.“

Die Wissenschaftler*innen entwickeln eine neue Apparatur, um das Freisetzungsverhalten der Wirkstoffe untersuchen zu können. Bildnachweis: Max Fuhrmann/TU Braunschweig

Besonders die zeitliche und räumliche Gradierung des Implantats müssen in der Apparatur berücksichtigt werden. Bildnachweis: Max Fuhrmann/TU Braunschweig

Eine wichtige Aufgabe dabei ist die Entwicklung einer geeigneten Apparatur zur Gewinnung von Freisetzungsproben, die sowohl die räumliche Gradierung auf dem Implantat als auch den zeitlichen Verlauf der Freisetzung der unterschiedlichen Wachstumsfaktoren berücksichtigt. Mit ihr soll dann die punkt- und zeitgenaue Freisetzung der Wachstumsfaktoren nachgewiesen werden. „Bisherige Apparaturen muss man sich wie ein Gefäß vorstellen. Dieses befüllt man mit einem geeigneten Medium, in das die zu untersuchende Arzneiform gegeben wird. Nach verschiedenen Zeitabschnitten wird gemessen, wie viel Wirkstoff freigesetzt wurde“, beschreibt Leonie Berten-Schunk. Eine andere Art der Freisetzungsapparatur sind sogenannte Durchflusszellen. Hierbei wird das Medium konstant durch eine Kammer mit der Arzneiform geleitet und gemessen, wie viel Wirkstoff zu welchem Zeitpunkt freigesetzt wurde.

Beide Apparatur-Arten sind für das entwickelte Implantat ungeeignet, da sie nur die zeitliche, jedoch nicht die räumliche Änderung der Freisetzung abbilden können. Außerdem sollen physiologische Einflüsse auf das Freisetzungsverhalten des Implantats in der Apparatur nachgeahmt werden, um somit die in vivo-Situation besser abzubilden. Die Entwicklung der Freisetzungsapparatur ist somit ein elementarer Baustein, um den Behandlungserfolg prognostizieren zu können.

Forschen am Prototypen

Auch wenn die Wissenschaftler*innen bereits erste In vivo-Tests mit Implantatprototypen durchführen, ist ein regulärer Einsatz in der Behandlung von Sehnen-Knochen-Abrissen noch nicht absehbar. Klinische Studien, die für eine Zulassung notwendig wären, sind in dem Forschungsprojekt nicht vorgesehen. Prinzipiell ist die Grundlagenforschung zu diesem Behandlungsverfahren auf Abrisse an jeder anderen Sehnen-Knochen-Verbindung im Körper übertragbar und könnte so in ferner Zukunft einer Vielzahl an Patient*innen bessere Behandlungsmöglichkeiten bieten.