5. Mai 2020 | Magazin:

Feine Antennen im digitalen Unterricht Professor Oliver Bodensiek über digitale Kompetenzen in der Lehrerbildung

Virtuelle Klassenzimmer, Lernmanagementsysteme, Unterricht per Video – genau wie an den Universitäten müssen sich auch an den Schulen Lehrende und Lernende auf neue Gegebenheiten und digitale Tools einstellen. Professor Oliver Bodensiek vom Institut für Fachdidaktik der Naturwissenschaften setzt bereits seit längerem Augmented Reality-Brillen in der Physik-Lehramtsausbildung ein und arbeitet im Forschungsprojekt „DiBS – Digitale Kompetenzen für die Lehrerbildung an der TU Braunschweig“. Im Interview berichtet er über neue Möglichkeiten und aktuelle Herausforderungen.

Professor Oliver Bodensiek vom Institut für Fachdidaktik der Naturwissenschaften. Bildnachweis: Markus Hörster/TU Braunschweig

Herr Professor Bodensiek, da regulärer Unterricht momentan nicht möglich ist, steht die Digitalisierung der Schulen im Fokus. Wie muss sich der Unterricht jetzt verändern?

Die Entwicklungen gehen jetzt tatsächlich schneller voran als ursprünglich geplant. Ein Beispiel aus Niedersachsen: Ab Anfang Mai 2020, mehr als ein Jahr früher als geplant, soll nun die niedersächsische Bildungscloud für alle Schulen verfügbar sein. Hier hat der Druck durch die aktuelle Situation einiges beschleunigt. Hoffentlich bleibt dieses „Momentum“ auch dann zumindest teilweise erhalten, wenn regulärer Unterricht wieder in der Breite möglich ist.

Präsenzunterricht musste nun abrupt durch digitale Möglichkeiten ersetzt werden. Man merkt auf allen Seiten, was dies für Herausforderungen mit sich bringt. In Zeiten von wochenlangem Homeschooling sehnen sich Schülerinnen und Schüler plötzlich wieder danach, in die Schule zu gehen. Eltern erfahren die Schwierigkeiten des Lernens live mit und Lehrerinnen und Lehrer müssen zwangsweise und auf pragmatische Art und Weise Praxiserfahrung in der Gestaltung digitalen Unterrichts sammeln. Glücklicherweise gibt es online Unterstützungsangebote zu digitalen Inhalten und Werkzeugen für den Unterricht und auch im Hinblick auf die didaktischen Herausforderungen des Lernens und Lehrens mit und auch über digitale Medien.

Interessant ist in der aktuellen Situation, wie die Beziehungsebene zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern gut abgebildet werden kann. Sie stellt einen erheblichen Einflussfaktor für Unterrichtsqualität und Lernerfolg dar. Und die dabei so wichtigen „feinen Antennen“ sowohl von Sender als auch Empfänger können in der Online-Situation naturgemäß nicht ganz optimal arbeiten. Manches mehr bleibt nun vielleicht im Verborgenen. Ich halte es daher für essentiell, im Online-Unterricht insbesondere auch ein Augenmerk auf die Beziehungsarbeit zu legen.

Im Rahmen der  „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ wird das Projekt „DiBS Digitale Kompetenzen für die Lehrerbildung an der TU Braunschweig“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Ziel des Projekts, das am 1. Juni 2020 startet, ist es, digitale Kompetenzen systematisch in der Lehrerbildung zu verankern. Sie forschen dazu im sogenannten „Teaching Lab“. Um was geht es dabei konkret?

Das „Teaching Lab“ umfasst mehrere Teilprojekte, in denen die Studierenden den letzten von drei Schritten des Aufbaus digitaler Kompetenzen durchlaufen: Sie sollen den Perspektivenwechsel von Lernenden zu Lehrenden vollziehen indem sie digitale Werkzeuge in ihre Unterrichtsplanung mit einbeziehen, in Lehr-Lern-Situationen praktisch erproben, und deren Wirksamkeit reflektieren.

Begleitend werden der Kompetenzerwerb und die verwendeten Tools evaluiert bzw. weiterentwickelt, unter anderem vor dem Hintergrund der „Cognitive Load Theory“: Generiert die Verwendung digitaler Werkzeuge eine zusätzliche kognitive Belastung oder werden kognitive Ansprüche eventuell sogar reduziert? Wo haben die Tools davon abgesehen ihre Vor- und Nachteile? Was sind relevante Wirkfaktoren in den verwendeten digitalen Lernsettings? Wir wollen die Lehramtsstudierenden letztlich dazu befähigen, in ihrer späteren Rolle als Lehrkräfte auch den digitalen Kompetenzaufbau ihrer Schülerinnen und Schüler reflektiert zu unterstützen.

Welche digitalen Werkzeuge sollen die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht einsetzen können?

Das lässt sich pauschal kaum beantworten und hängt immer davon ab, worin die jeweiligen Unterrichtsziele im Einzelnen bestehen. Sofern die digitalen Tools nicht selbst inhaltlicher Bestandteil des Unterrichts sind, sollte sich deren Einsatz den Unterrichtszielen immer unterordnen und deren Erreichung unterstützen. Dabei ist auch wichtig, sich die konkrete Rolle des digitalen Mediums oder Werkzeugs klar zu machen: Wird hier nur ein analoges Medium ersetzt, ohne einen funktionellen Mehrwert zu bieten? Wird der Unterricht eventuell durch einen solchen funktionellen Mehrwert bereichert oder können Aufgaben damit vielleicht sogar anders gestaltet werden? Im besten Fall wird der Unterricht um Möglichkeiten erweitert, die vorher schwer umzusetzen oder sogar kaum vorstellbar waren.

Für den naturwissenschaftlichen Unterricht gibt es beispielsweise gute Werkzeuge zur Messdatenerfassung. Damit können etwa verschiedene Schülergruppen Versuche durchführen und gleichzeitig werden die Messwerte aller Gruppen in Echtzeit am Smartboard dargestellt. Damit können dann Messfehler oder systematische Fehler im Versuchsablauf auch parallel zum Versuchsgeschehen visualisiert, bemerkt und in der Gruppe oder im Klassenverband diskutiert werden.

Mit Blick auf die Zeiträume von Studium und Referendariat ist aber auch nicht zu vernachlässigen, dass sich die zur Verfügung stehenden Werkzeuge ändern werden. Deshalb steht auch hier letztlich wieder der Erwerb digitaler Kompetenzen im Vordergrund: Sicher sollen die Studierenden  exemplarisch auch spezielle Tools aus dem breiten Spektrum digitaler Möglichkeiten zur Gestaltung von Unterricht verwenden. Wir wollen ihnen aber vor allem die Kompetenzen mitgeben, um sich auch auf neue Entwicklungen einzustellen zu können. Einen guten Überblick dazu gibt der europäische Referenzrahmen für die digitalen Kompetenzen von Lehrenden „DigComp Edu“, an dem wir uns auch häufig orientieren.

Nico Krambehr, Studierender des Lehramts Physik, testet eine AR-Brille. Bildnachweis: Daniel Götjen/TU Braunschweig

In der Physik-Lehramtsausbildung an der TU Braunschweig werden bereits jetzt Augmented Reality-Brillen eingesetzt. Wofür nutzen Sie diese? Und können diese auch in den Schulen eingesetzt werden?

Wir benutzen die Brillen momentan vor allem in Versuchen, um unsichtbare Größen wie elektrische oder magnetische Felder dem Experiment visuell zu überlagern, die sonst nicht direkt sichtbar wären. Die dreidimensionalen holographischen Visualisierungen sind dabei in Echtzeit an die aktuellen Messwerte gekoppelt, das heißt, man sieht zum Beispiel wie sich das Feld eines Elektromagneten ändert, während man im Versuch die Stromstärke erhöht. Die AR-Technologie bietet hier den Mehrwert, dass wir Theorie und Experiment in einer einzelnen Lernumgebung vereinen können. Erste Untersuchungen zeigen auch ein umfassenderes Verständnis der Fachinhalte, als wenn beides getrennt behandelt werden würde.

Nach den ersten Erfahrungen in der Nutzung von Augmented Reality bei physikalischen Versuchen möchten wir die Studierenden dazu befähigen, solche Experimente mit AR-Unterstützung auch selbst zu erstellen. Ein spezielles Seminar dazu ist für das kommende Wintersemester geplant.

Das macht den Physik-Unterricht bestimmt noch spannender!

In einer ersten kleineren Studie haben wir die brillenbasierte AR-Versuche auch im Schulunterricht erprobt. Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler sind dabei durchweg positiv gewesen. Die empirische Begleitforschung zeigt auch durchaus signifikant positive Effekte, die wir zum Teil auch direkt auf den Einsatz von AR zurückführen können. Ob dies aber auch mit einem anderen Experiment oder in einem anderen Fach der Fall wäre, wissen wir aktuell noch nicht. Unabhängig davon bieten AR und VR aber in jedem Fall spannende und sinnvolle Möglichkeiten für den Unterricht. Problematisch sind nur die hohen Anschaffungskosten der Endgeräte. Aber vielleicht werden Smartphones und Tablets in zehn Jahren gänzlich von AR-Brillen abgelöst und wir können die Technologie ganz selbstverständlich verwenden. Dann ist es gut, bereits fertige Konzepte für den Einsatz im Unterricht zu haben. Und Lehrerinnen und Lehrer, die sich damit im Studium schon einmal – wenn auch exemplarisch – auseinandergesetzt haben.

Wie können aktuelle Forschungsthemen mit AR/VR vermittelt werden?

Der große Vorteil von Mixed-Reality-Technologien ist das dreidimensionale Erleben der digitalen Inhalte im realen oder virtuellen Raum und die Möglichkeit einer einigermaßen „natürlichen“ Interaktion, beispielsweise mit Gesten. Man hat dann eher den Eindruck, mittendrin zu sein – in der Terminologie der Virtual Reality wird dies durch Immersion und Präsenz beschrieben. Dieses Erleben regt ganz andere Lernprozesse an, als die Interaktion am Computerbildschirm.

Auf der anderen Seite sind solche Technologien auch gut geeignet, um Hemmschwellen zu reduzieren. Aktuelle Forschungsthemen sind aufgrund ihrer Komplexität meist schwer zugänglich, können aber didaktisch reduziert häufig auch auf ganz spielerische Art und Weise zumindest in ihren Grundzügen vermittelt werden. Serious Games oder Game-based Learning, wozu auch Escape-Room-Lernszenarien gehören, sind aktuell ja sehr beliebt. Das kann mit AR oder VR natürlich adaptiert werden, wobei die Möglichkeit der Erweiterung in der virtuellen Welt nahezu unbegrenzt sind. Das ersetzt natürlich nicht das Studium von Fachliteratur, bietet aber einen guten Ausgangspunkt, um Forschungsthemen ein wenig zugänglicher zu machen oder einfach dafür zu begeistern.

In der Physikdidaktik konnten wir aktuell zwei Projekte einwerben, eines verwendet Virtual Reality und eines Augmented Reality, wo wir solch spielerische Ansätze zur Vermittlung der Grundprinzipien von Quantentechnologien nutzen.

Das Sommersemester 2020 ist ein Online-Semester. Wie haben Sie sich auf die Online-Lehre vorbereitet?

Wir nutzen überwiegend Stud.IP und die Courseware für asynchrone Formate und BigBlueButton als Konferenzsystem. In einem Seminar mit 15 Studierenden sind Online-Präsenzveranstaltungen auch noch ganz gut möglich. Es gab ja dankbarerweise viel Unterstützung durch verschiedenste Stellen der TU, sodass wir im Wesentlichen nur die Inhalte noch in ein entsprechendes Format bringen und natürlich unsere didaktische Strategie etwas anpassen mussten. Wir versuchen eine gute Mischung sowohl aus Online-Präsenzterminen als auch aus Materialien und Aufgaben für das Selbststudium hinzubekommen. In diesem digitalen Sommersemester werden wir alle viel lernen und sind dann hoffentlich für die Zukunft gut gewappnet. Vielleicht können Lehrveranstaltungen auch irgendwann in AR oder VR abgehalten werden – die aktuellen Entwicklungen lassen zumindest erwarten, dass wir solche Möglichkeiten in Zukunft tatsächlich nutzen könnten.