2. Juni 2021 | Magazin:

Aus den Online-Semestern lernen Besondere Herausforderungen beim Studieren mit Beeinträchtigung

Lange Wege auf dem Campus, Treppen zum Hörsaal, unflexible Zeitpläne. Studierende mit Beeinträchtigungen müssen nicht nur im Alltag, sondern auch im Studium besondere Herausforderungen bewältigen. Welche weiteren Schwierigkeiten bringen die Online-Semester mit sich? Gibt es auch Vorteile? Was können wir für die Zukunft daraus lernen? Das wollten wir von Studentin Stella Behrens und der Beauftragten für Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen Carolin Wegner wissen.

Die Treppe zum Altgebäude. Bildnachweis: Marisol Glasserman/TU Braunschweig

„Die Erfahrungen und Barrieren sind sicher so vielfältig wie die Studierenden selbst“, berichtet Carolin Wegner, Beauftragte für Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. „Bei uns an der TU Braunschweig, mit den vielen alten Gebäuden, stoßen Studierende mit Mobilitätsbeeinträchtigungen häufig auf bauliche Barrieren. Regelmäßige Anwesenheitspflichten oder ungünstig gelegene Seminarzeiten können für Studierende mit chronischen Erkrankungen ebenfalls eine große Hürde darstellen.“

Diese Erfahrung teilt auch Stella Behrens, Studentin der Germanistik und Evangelischen Theologie auf Grundschullehramt: „In einem ‚normalen‘ Präsenzsemester stellen für mich die tägliche Anwesenheit und die Leistungserbringungen vor Ort die größten Barrieren dar. Auch die teilweise langen Wege auf dem Campus können eine Herausforderung sein.“ Dadurch sieht sie nicht nur für sich, sondern auch für andere in einer ähnlichen Situation vor allem den geregelten Studienablauf als gefährdet.

„Es gibt viele Dozierende, die auf Nachfrage sehr verständnisvoll reagieren und einem etwa bei Abgabefristen bereitwillig entgegenkommen. Jedoch bleiben die täglichen Anforderungen vor allem in der Vorlesungszeit bestehen. Selbst wenn man immer die Möglichkeit hat, Veranstaltungen oder Module zu ‚schieben‘, möchten auch Studierende mit Beeinträchtigung ihr Studium in der Regelstudienzeit absolvieren. Manche Veranstaltungen werden außerdem nur im Winter- oder nur im Sommersemester angeboten. Längere Ausfälle durch Krankenhausaufenthalte oder ähnliches bedeuten damit häufig, dass man nicht nur ein, sondern gleich zwei Semester nach hinten geworfen wird.“

Welche Veränderungen bringen die Online-Semester mit sich?

In den Conrona-bedingten Online-Semestern haben sich einige Rahmenbedingungen des Studiums gewandelt. Kein voller Hörsaal oder Seminarraum, in dem man andere Kommiliton*innen trifft, keine Gruppenarbeit in Präsenz, kein Campusleben. Viele Studierende leiden zunehmend unter Einsamkeit und Isolation. „Mangelnde Kontakte sind vor allem für ohnehin psychisch erkrankte Studierende verstärkt belastend. Ich nehme bei vielen eine große Verunsicherung wahr, die sich auch direkt auf das Studium auswirken kann“, so Carolin Wegner.

Trotz dieser und ähnlicher Nachteile kann die Umstellung auch eine Entlastung sein. „Ehrlich gesagt bin ich persönlich für die digitale Lehre sehr dankbar“, erzählt Behrens. „Durch das Online-Semester fehlt natürlich der Kontakt zu Kommiliton*innen sowie die Möglichkeit, durch eine räumliche Trennung zwischen Universität und Privatleben komplett abzuschalten und in den Feierabend zu gehen. Dennoch bietet mir das digitale Erarbeiten von Inhalten eine Menge Freiheiten. Ich bin nicht mehr gezwungen, mich trotz Schmerzen auf den Weg nach Braunschweig zu machen, sondern kann mich im Notfall mit meinem Laptop ins Bett oder auf das Sofa setzen und an den Live-Veranstaltungen teilnehmen. Wenn ich asynchrone Veranstaltungen habe, kann ich die Bearbeitung der jeweiligen Einheit auch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und mir selbst die Ruhe geben, die ich benötige. Selten habe ich mich in meinem Studium gesundheitlich so ausgeglichen gefühlt wie in den letzten zwei Semestern. Und das, obwohl ich allein in diesem Semester so viele Veranstaltungen besucht und Leistungen erbracht habe wie in den vorigen zwei Semestern zusammen. Mir ist auch aufgefallen, dass viele Dozierende einen sensibleren Umgang mit dem Thema Gesundheit im Studium und Alltag entwickelt haben.“

Was können wir daraus lernen?

Um mehr Chancengleichheit und Barrierefreiheit zu erreichen, gilt es weiterhin bestehende Herausforderungen anzugehen und Barrieren abzubauen, betont Carolin Wegner. So können auch Online-Formate z. B. für seh- oder hörbeeinträchtigte Studierende eine besondere Schwierigkeit sein, da diese nicht immer barrierefrei gestaltet sind.

Dennoch bietet diese Form des Studierens Potenzial, so Behrens: „Ich erhoffe mir, dass uns das, was wir im Umgang mit der digitalen Lehre lernen mussten, dabei hilft, das Studium für alle inklusiver zu gestalten. Wir wissen inzwischen, dass Online-Mitschnitte oder Live-Übertragungen von Vorlesungen ohne viel Aufwand möglich sind. Es wäre wünschenswert, dass diese Option auch noch angeboten wird, sobald es wieder mit der ‚normalen‘ Präsenzlehre weitergeht. So müssen Studierende mit Beeinträchtigung nicht zwischen Gesundheit und Studium entscheiden.“

Auch Carolin Wegner äußert diesen Wunsch: „Die Umstellung auf die Online-Lehre war für alle Beteiligten mit einem großen Aufwand und zum Teil mit Problemen verbunden. Doch es hat auch viele neue Formen der Lehre ermöglicht, die vor der Pandemie so nicht denkbar waren. Es wäre schön, wenn die Studierenden auch in Zukunft von den gewonnenen Erfahrungen profitieren könnten. Etwa indem zusätzlich zu den Präsenzveranstaltungen alternative oder ergänzende Online-Formate angeboten werden.“