Offshore-Windkraft: Wenn sich der Boden verflüssigt Verbundprojekt untersucht Veränderungen des Meeresbodens im Großen Wellenströmungskanal
Die Nordsee soll zum „Kraftwerk Europas“ werden. Damit die Windenergie künftig maßgeblich zur Stromversorgung des Kontinents beiträgt, wollen die Nordsee-Anrainerstaaten bis 2030 Offshore-Windkraftanlagen mit einer Leistung von 120 Gigawatt bauen. Der Einsatz der dafür benötigten schwimmenden Anlagen bringt jedoch auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich – wie beispielsweise Veränderungen des Meeresbodens rund um die Windkraftanlagen. Die sogenannte Bodenverflüssigung untersuchen Forschende im internationalen Verbundprojekt NuLIMAS, das vom Leichtweiß-Institut für Wasserbau der Technischen Universität Braunschweig koordiniert wird. Dazu haben die Wissenschaftler*innen im Großen Wellenströmungskanal in Hannover ein einzigartiges Experiment mit einer schwimmenden Windturbine gestartet.
Damit Offshore-Windenergieanlagen extremen Bedingungen standhalten, müssen sie auch optimal an die Gegebenheiten unter Wasser und im Boden angepasst werden. Hier setzt das Verbundprojekt NuLIMAS der TU Braunschweig gemeinsam mit Partnern aus Deutschland, Polen und der Türkei an. Das Forschungsteam analysiert die Prozesse der Bodenverflüssigung. Ein Phänomen, das sogar dazu führen kann, dass große Bauwerke – wie zum Beispiel Wellenbrecher – bei Sturm im Boden einsinken und ihre Funktion verlieren. Wenn starke Wellenbewegungen auf die Fundamente schwimmender Windkraftwerke einwirken, kann die Bodenverflüssigung auch hier eintreten und damit zum vollständigen Verlust der Tragfähigkeit führen. Im schlimmsten Fall rutscht dadurch die gesamte Anlage weg.
Schwimmende Windturbine im Maßstab 1:15
Für den Versuch im Großen Wellenströmungskanal (GWK+) des Forschungszentrums Küste in Hannover haben die Forschenden in den 300 Meter langen Kanal eine schwimmende Windturbine platziert. Diese Turbine im Maßstab 1:15 wurde speziell aus Aluminium gefertigt und basiert auf einer echten Windkraftanlage des Projektpartners GICON®. Die schwimmende Struktur, die sogenannte GICON®-TLP, ist über vier Verankerungsleinen mit dem Fundament – einem zwei Mal zwei Meter großen und 50 Zentimeter hohen Betonbauteil – verbunden. „Versuche solcher Art in diesem Maßstab gab es für schwimmende Strukturen bislang nicht“, sagt Dr. Christian Windt vom Leichtweiß-Institut für Wasserbau, der das Verbundprojekt koordiniert. Die Experimente im Wellenströmungskanal sind extrem aufwendig. Für jeden Versuch muss der Sand, den die Wissenschaftler*innen verflüssigen wollen, mit einer Art „Hochdruckreiniger“ aufgelockert werden.16 Sensoren sind entlang des Sandbodens im Kanal installiert. Dann wird der Kanal über Nacht mit rund 6.750 Kubikmeter Wasser gefüllt.
Mit den experimentellen Daten wollen die Forschenden ihr Computermodell für die Bodenverflüssigung überprüfen. Erste Vergleichsdatensätze haben die Wissenschaftler*innen bereits durch Experimente im kleinen Maßstab mit den Partnern in Polen erhoben. Jetzt folgte die großskalige Experimentalkampagne im GWK+. Zunächst betrachtete das Forschungsteam ausschließlich die Auswirkungen von Wellenbewegungen auf den Meeresboden. Für eine realistische Belastung der Struktur sollten jedoch nicht nur Wellen-, sondern auch Windlasten berücksichtigt werden. Das heißt: Neben den Wellen von bis zu 60 Zentimetern Höhe – das entspricht neun Metern in der Realität – kam in weiteren Versuchen Wind hinzu, mit einer mittleren Geschwindigkeit von bis zu sechs Metern pro Sekunde im Realmaßstab. Dafür entwickelten die Forschungspartner zusammen mit der sowento GmbH ein neuartiges, sogenanntes Hardware-in-the-loop System, das die Windlasten auf die Struktur in Echtzeit berechnet und durch vier Propeller aufbringen kann.
Experiment mit realistischen Bedingungen
In einem der Experimente im GWK+ lassen sich die Auswirkungen extremer Kombinationen aus Wellen- und Windbelastung sowie die Verflüssigungswirkung im Boden wie in der Natur beobachten. Bereits nach kurzer Zeit zeigt sich, wie sich die Windturbine im Kanal bewegt, dann in Richtung Wellenkanal-Wand abdriftet und sich schließlich um 90 Grad dreht. Die Bewegungen werden mit vier Kameras aufgenommen, die Verschiebung des Fundaments zusätzlich mit Echoloten gemessen. „Die Bodenverflüssigung hat relativ schnell eingesetzt. Das haben wir erwartet“, erklärt Dr. Christian Windt. Ein Szenario, das bei stürmischem Wetter auch auf der Nordsee auftreten und den Betrieb der Windenergieanlage beeinträchtigen könnte. „Unsere Daten zeigen den signifikanten Einfluss der kombinierten Lasten durch Wind und Welle auf den Meeresboden. Diese gemeinsamen Effekte lassen sich derzeit nur in unseren großskaligen Experimenten nachweisen. Sie ermöglichen nun wichtige Designoptimierungen für die Windenergieanlagen, die die Industrie dringend braucht, um weiter wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagt Professor Nils Goseberg, Institutsleiter des LWI und Direktor am Forschungszentrum Küste.
Mit ihren in den Versuchen gewonnenen Datensätzen entwickeln die Verbundpartner ein Computermodell, um planende Ingenieur*innen bei Fragestellungen zu Anker-Design, Bodenart und Standortwahl zu unterstützen.
Projektdaten:
Das Verbundprojekt „NuLIMAS – Numerische Modellierung von Bodenverflüssigung um marine Strukturen“ wird durch den ERA-NET Cofund MarTERA im Rahmen des Horizont-2020-Programms der Europäischen Union gefördert. Weitere Fördermittel kommen vom deutschen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), der Türkischen Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (TÜBIKTAK) und dem polnischen Narodowe Centrum Badań i Rozwoju (NCBR). Die Fördersumme beläuft sich auf insgesamt 1,4 Millionen Euro. Der Förderanteil der TU Braunschweig liegt bei rund 521.500 Euro. Neben dem Leichtweiß-Institut für Wasserbau (LWI) der TU Braunschweig sind das Forschungszentrum Küste (FZK), das Institute of Hydro-Engineering of Polish Academy of Sciences (IBW) sowie GICON, WIKKI und BM SUMER als Industriepartner beteiligt.