Kleinste Kräfte mit enormer Wirkung auf Moleküle Molekulare Regulation der Veränderung von Zellform und Zellbewegung gemessen und sichtbar gemacht
Bewegungsprozesse von Zellen werden von dynamischen Makromolekülen ermöglicht, die sich gezielt schnell auf- und auch abbauen können. Diese Makromoleküle sind Teil des Zellskeletts bzw. Zytoskeletts und werden Aktin-Filamente genannt. Die Bildung dieser sehr dünnen Filamente kann Schubkräfte ausüben. Die Schubkräfte von Filamentbündeln wiederum führen zu einem Vorschub von zellulären Fortsätzen oder Ausstülpungen der Zellhülle. Diese Fortsätze sind zum Beispiel wichtig für die Zellbewegung und auch beim Fressen von Erregern wie pathogenen Bakterien. Im Muskel werden Aktin- und Myosin-Filamente dazu genutzt, über Zugkräfte die Muskelzellen zusammenzuziehen. Dies passiert milliardenfach im Laufe eines Menschenlebens beim sekündlichen Pumpen unseres Herzens. Professor Klemens Rottner von der Technischen Universität und sein Team haben zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Bordeaux in Frankreich zeigen können, wie die Schubkräfte auf molekularer Ebene gesteuert werden. Die Ergebnisse dazu sind jetzt im Magazin „Nature Cell Biology“ erschienen.
Die Ausbildung von Aktinfilamentnetzwerken, die die Zellformveränderung und Zellbewegung steuern, werden durch molekulare Maschinen (WAVE-Komplex) reguliert, die teilweise hochkomplex aufgebaut sind. Obwohl diese Maschinen an der Plasmamembran theoretisch Schub- und zum Teil auch Zugkräften ausgesetzt sein müssen, konnten die auf sie wirkenden Kräfte bislang nie direkt sichtbar gemacht oder gemessen werden. Auch die Wirkung, die diese Schubkräfte möglichweise auf das Funktionieren der molekularen Maschinen haben könnten, ist nicht erforscht.
„Wir konnten in unserer Arbeit erstmals zeigen, wie sich einzelne Komponenten der Aktinpolymerisationsmaschinen an der Plasmamembran bewegen, und wie sich ihre Bewegung in Abhängigkeit aktiver Polymerisation der Filamente, die sie regulieren, verändert“, sagt Professor Klemens Rottner, Molekularbiologe an der Technischen Universität Braunschweig und am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig. Zudem konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland und Frankreich Schubkräfte, die auf einzelne Molekülkomplexe wirken, erstmals in lebenden Zellen messen. Diese Schubkräfte bewegen sich im Piconewton-Bereich, also im Bereich eines Millionstel eines Millionstel Newton. Das heißt, die Moleküle sind extrem kleinen Kräften mit dennoch großer Wirkung ausgesetzt.
Feedback-Loop grundlegender biologischer Prozesse
„Wir konnten nicht nur die Kräfte messen, sondern auch zeigen, wie diese Kräfte wirken. Die individuellen Molekülkomplexe werden quasi mechanisch von der Membran entfernt und dann ersetzt durch frische Molekülkomplexe. Da wir aber auch darstellen konnten, dass eine experimentelle Immobilisierung der Aktinpolymerisationsmaschinen die Aktivität erhöht und eine geringere Verweildauer dieser Komplexe daher umgekehrt zu einer reduzierten Aktivität führt, bedeutet dies, dass die Natur hier eine Art mechanisches Regulativ eingebaut hat“, sagt Professor Rottner. Diese Ausgleichsfunktion führe zum einen dazu, dass schnelle Aktinpolymerisation gedrosselt wird durch schnellen Austausch der Aktinpolymerisationsmaschine, und zum anderen, dass einer zu langsamen Polymerisation entgegengewirkt wird durch Verlangsamung des Austauschs der Maschinen. Dieser neue Mechanismus eines mechanischen feedback-loops ermögliche eine besondere Robustheit solcher in der Biologie fundamentalen Prozesse.
Schubkräfte in Zellen sichtbar
Zu Beginn des Forschungsprojektes kam mit CRISPR/Cas9 eine Methode zum Einsatz, die im Jahre 2020 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde. Damit wurden zunächst verschiedene Untereinheiten der oben genannten Aktinpolymerisationsmaschinen genetisch zerstört und neue Einheiten eingebaut. Eine dieser Maschinen nennt man WAVE-Komplex. Dieser Komplex ist entscheidend für die Ausbildung der Aktin-Netzwerke, die wiederum für die Zellbewegung oder Phagozytose benötigt werden.
In Zusammenarbeit mit dem Team um Grégory Giannone von der Universität Bordeaux und Wissenschaftlern des École Polytechnique in Paris wurden spezielle Bildgebungsverfahren eingesetzt, um die Bewegung von einzelnen WAVE-Komplexen innerhalb dieser Netzwerke zu verfolgen. Dabei fielen besondere Bewegungsmuster auf, die nur durch von Aktin-Filamenten erzeugten Schubkräften erklärbar waren. Um das nachzuweisen, wurden die in Zellen beobachteten WAVE-Komplexe so verändert, dass diese durch die Zelloberfläche hindurchragten und nun an der Zellaußenseite greifbar waren. So konnten von außen die auf diese wirkenden Kräfte gemessen werden. Zudem konnten diese Komplexe auch von außen manipuliert werden, also beispielsweise aus ihrer gegenwärtigen Position herausgezogen oder auch zu größeren Gruppen vereinigt werden. Letzteres hat dazu geführt, dass ein mechanischer Feedback-Mechanismus beobachten werden konnte.
Genetische Untersuchungen an der TU Braunschweig
Die genetische Manipulation fand an der TU Braunschweig in der Arbeitsgruppe von Professor Klemens Rottner statt. Das Entfernen verschiedener Untereinheiten des WAVE-Komplexes sowie das Einbringen der für die Kraftmessungen benötigten mutierten WAVE-Komplexe nahmen die beiden ehemaligen Doktorand*innen Dr. Frieda Kage und Dr. Matthias Schaks vor. „Zudem war meine Arbeitsgruppe in diesem Projekt dafür zuständig, zellbiologisch durch Messung unterschiedlicher Parameter sicherzustellen, dass die in Zellen eingebrachten, veränderten WAVE-Komplexe ihre Funktionstüchtigkeit in der Regulation der Aktinpolymerisation trotz der Manipulationen nicht verloren haben“, sagt Prof. Rottner.
Die erzielten Ergebnisse geben neue Einblicke in das Wechselspiel zwischen Signalgebung, molekularer Regulation und mechanischer Belastung, das auf die Steuerungsmoleküle dieser Aktinpolymerisationsprozesse wirkt. Zudem führt die Berücksichtigung mechanischer Einflüsse auf die molekulare Regulation biologischer Prozesse zu neuen Ansätzen für die mögliche Entwicklung von Hemm- oder Wirkstoffen, die bei der Krebsbekämpfung (im Besonderen bei der Metastasierung) oder als Antiinfektiva eine Rolle spielen könnten.