„Wir machen Forschung für die Menschen“ Professor Nils Goseberg über Wellenkanäle, Küstenschutz, Tsunami- und Seebauforschung
Werden Modellversuche eines Tages überflüssig sein und damit vielleicht auch ein Wellenkanal? Ist eine Ausbildung vor dem Studium hilfreich? Was kann die Tsunami-Forschung bewirken? Was hat „Bauen mit der Natur“ mit Küstenschutz zu tun? Auf diese und weitere Fragen von Dr. Heiko Jacobs antwortet Professor Nils Goseberg vom Leichtweiß-Institut (LWI) an der TU Braunschweig. Professor Goseberg, gelernter Zimmermann, Bauingenieur, leitet seit 2018 die Abteilung für Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau am LWI.
Lieber Herr Professor Goseberg, Sie haben gerade den Modellwellenkanales miniGWK+ im Maßstab 1:10 eröffnet. 1:10 klingt erst mal beschaulich, aber wenn das Original, der Große Wellenkanal (GWK), über 300 Meter lang ist, sprechen wir beim Modell bereits von über 30 Metern Länge. Wozu dient der miniGWK+?
Das Modell miniGWK+ ermöglicht uns sowohl natürliche Seegänge, als auch die Tiedeströmung in der Nordsee abzubilden. Das ist eine Kombination, die wir so bisher nicht darstellen konnten.
Ist das eine ganz neue Idee oder gibt es das bei anderen Wellenkanälen schon?
Es gibt relativ wenige Strömungskanäle in dieser Dimension. Der miniGWK+ wird uns helfen, den Großen Wellenkanal in der Bauphase zu beeinflussen. Mit dem GWK+ werden wir eine Anlage haben, die in der Form weltweit niemand hat. Es gibt zwei vergleichbare Kanäle, die auch Strömungen erzeugen können: Der erste befindet sich südlich von Tokyo am Port and Airport Research Institute (PARI). Die zweite vergleichbare Anlage entstand in Tianjin, China. Unsere Anlage wird um Längen besser sein, insbesondere in der Art, wie Tideströmung erzeugt und dann mit Wellen überlagert werden kann. Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass wir hier ein Alleinstellungsmerkmal haben, mit dem wir den Energiewendethemen gerecht werden können. Das sind drei Bereiche: erstens die Offshore-Windenergie, dann die Tiedeströmungsenergie und als Drittes die Wellenenergie, wo das Forschungsfeld noch in den Kinderschuhen steckt.
Sie werden in Kürze den Großen Wellenkanal mit der Erweiterung als GWK+ und den kleinen Wellenkanal miniGWK+ parallel nutzen. Wie übertragbar sind die Ergebnisse?
Wir lernen viel, indem wir in Modellfamilien von kleinskalig zu mittelskalig und zu großskalig gehen. Wir haben Skaleneffekte, zum Beispiel beim Wellenbrechen durch unterschiedliche Lufteinmischung, da Luft nicht den gleichen Skalierungsgesetzten folgt wie Wasserströmungen mit freier Oberfläche. Auch Sandkörner lassen sich nicht unendlich verkleinern, wir kommen schnell in einen kohäsiven Bereich wo sich die Materialeigenschaften verändern. Für viele Anwendungen ist der GWK unerlässlich. Küstenschutzanlagen testen wir im GWK nah an der Realität in den Maßstäben 1:3 oder 1:5, bei Windenergieanlagen 1:10 bis 1:15.
Es gibt inzwischen digitale Berechnungsmethoden, die vom Rechenaufwand momentan noch aufwändiger als Modellversuche sind. Die Rechenmöglichkeiten vervielfachen sich aber alle paar Jahre. Werden Modellkanäle eines Tages überflüssig?
Eine wirklich gute Frage: In meinem Studium wurde uns vorausgesagt, wenn wir in die Berufswelt einsteigen werden, würde keiner mehr Experimente machen – jetzt bin ich bald 15 Jahre aus dem Studium raus und wir brauchen die Experimente immer noch. Meine Wette auf die Zukunft ist, dass wir weiter experimentieren, gleichwohl verschränken sich immer mehr die Methoden. In der Mischung liegt die Zukunft.
Bevor Sie 2001 in Dresden Ihr Bauingenieurstudium mit der Vertiefung Wasserbau begannen, haben Sie mit Auszeichnung eine Zimmerergesellenprüfung abgelegt und fast ein Jahr als Zimmerer gearbeitet. Zwischen Zimmerei und Wasserbau liegen auf dem ersten Blick Welten – war das ein Bruch oder sehen Sie das als konsequente Weiterentwicklung?
Das war tatsächlich geplant. Ich habe erst die Berufsausbildung gemacht, weil ich wissen wollte, wie es auf der Baustelle läuft. Mir hat das beim Studieren extrem geholfen. Ich wusste dadurch, was ich wollte und wie die Studieninhalte angewandt werden, auch bei Fächern wie Mechanik und Statik, bei denen unsere Studierenden oftmals Motivationsschwierigkeiten haben.
Sie bringen neu den Fokus Tsunami-Forschung mit. Sie waren mitten im Studium, als das große Seebeben im Indischen Ozean Weihnachten 2004 schätzungsweise 230.000 Todesopfer forderte. War das für Sie ein Weckruf?
Weniger persönlich als im akademischen Bereich. Mit dem Ereignis von 2004 hat im wissenschaftlichen Bereich eine intensivere Beschäftigung mit langen Wellen – Tsunamis – begonnen. Wir haben im Zuge unseres Forschungsprojektes von 2007 bis 2010 Gefährdungskarten für Padang auf Sumatra in Indonesien entwickelt und interdisziplinär mit Sozialwissenschaftlern die Evakuierungsszenarien verschränkt mit Überflutungsdynamik: Wie dringt die Tsunamiwelle in die Stadt hinein und wie entwickelt sich gleichzeitig der Evakuierungsprozess? Wir haben die kritischen Bereiche im Straßennetz identifiziert. Diese Karten haben wir publiziert und mit den Sozialwissenschaftlern in der Stadt auch implementiert. Seitdem hat sich dort das Straßennetz verändert.
Unsere Hoffnung ist, dass es bei einem Tsunami, der dort aufgrund der Tektonik immer noch aussteht, deutlich weniger Opfer geben wird. Wir sind nicht nur im Küsteningenieurwesen zunehmend interdisziplinär unterwegs. Wir machen Forschung für die Menschen. Wir wollen die Küsten auch vor den Auswirkungen des Klimawandels sichern, ob in Indonesien oder in Niedersachen, und dafür brauchen wir immer junge Menschen, die sich für unsere Fachrichtung begeistern.
Wo liegen die Grenzen der seit 2004 installierten Frühwarnsysteme? Ich denke zum Beispiel an die Auswirkungen von unterirdischen Hangrutschungen.
Sie meinen den Tsunami von Sulawesi, ein sehr spezielles Ereignis, aber gar nicht so selten: Eine Kulminierung von Tsunamis durch tektonische Ereignisse mit durch das Erdbeben ausgelösten Hangrutschungen, die die Stadt Palu am Ende der Bucht getroffen haben. Hier ist noch Forschungsarbeit notwendig, denn hangrutschinduzierte Tsunamis kann man ganz schwer vorhersagen, die Vorwarnzeit schrumpft auf unter fünf Minuten.
Eine automatisierte, nicht von Menschen freigegebene Warnung ist wahrscheinlich wegen Fehlalarmen unzulässig.
Wer übernimmt die Verantwortung? Das ist eine ähnliche Diskussion, wie wir sie beim autonomen Fahren haben. Die Verantwortung für ein technisches System müsste in letzter Konsequenz ein Staat tragen, das geht nicht ohne Menschen. In Indonesien sitzen zum Beispiel rund um die Uhr zwei Officers, die Warnmeldungen freigeben müssen.
Was für Alternativen hat man dann? Bauliche?
Bauliche, sowie die Schulung der Menschen vor Ort. Denen muss klar sein, dass sie bei jedem Erdbeben sofort weg von der Küste rennen. Hier brauchen wir wieder Sozialwissenschaftler, die darin geschult sind, Kampagnen zu entwickeln, die für alle umsetzbar sind. In baulicher Hinsicht habe ich mich in meiner zweieinhalbjährigen Zeit in Kanada mit der Frage beschäftigt, welche besonderen Lasten durch Treibgut auf Gebäude einwirken. Die Ergebnisse flossen bereits in die Normungsversuche der American Society of Civil Engineering ein. Welche Lastannahmen muss ich wasserseits für ein Tsunami-Evakuierungsgebäude treffen? Bisher hatte man hier nur die Lasten durch das vorbeiströmende Wasser berücksichtigt.
Lässt sich Tsunamiforschung auch am GKW durchführen?
Ja, wir haben tatsächlich aktuell ein Projekt über collapsing structures. Wir werden in den nächsten Wochen, gefördert von der VW-Stiftung, einen großen Holzwürfel testen. Er steht für ein Haus am Strand im Maßstab 1:15. Wir wollen mit der Wellenmaschine eine Schwallwelle erzeugen, um den Würfel von seiner fixen Position zu lösen und zu zerstören. Wir wollen herausfinden, wo die Bruchstücke hingehen, was sie mit anderen Häusern machen, auch als Konsequenz der Treibgutforschungen aus meiner Zeit in Kanada.
In Japan 2011 hatten wir beim Tsunami keine Wasserströmung, sondern quasi ein Gemisch aus Bruchstücken, Sedimenten und ein bisschen Wasser. Nur wenn wir verstehen, wie sich das verhält, werden wir vorhersagen können, wie weit das Wasser kommt. Hierfür soll das Projekt, das durch VW-Stiftung-Experiment! gefördert wird, ein erster Aufschlag für diese neue Forschung sein.
Durch mechanischen Küstenschutz verschiebt man den Schwerpunkt einer Küstenregion von einer Naturregion zur Kulturregion. In Jahrhunderten gedacht verschieben sich Küsten und vorgelagerte Inseln stetig mit Landverlusten und Landgewinnen. „Land“ ist aber ein mit Eigentum verbundener Begriff, mit Nutzungsrechten, Baurechten etc. Ab wann sollte Küstenschutz zugunsten der natürlichen Veränderung unterbleiben?
Eine ganz schwierige, fast philosophische Frage, da sich unsere gesellschaftlichen Vorstellungen ändern. Die Natur als einen Wert anzusehen, ist relativ neu. Im Küsteningenieurwesen hat das „Bauen mit der Natur“ Einzug gehalten. Salzmarschen und Wattflächen werden von Ingenieuren stärker als Naturraum und Element im Küstenschutz wahrgenommen.
Unsere Gruppe arbeitet mit den Kollegen in Hannover beispielsweise in den Projekten STENCIL und ECODIKE. Bei STENCIL geht es um Untersuchungen von Strandauf- und Vorspülungen und ECODIKE beschäftigt sich mit dem Benefit der Vegetation für die Abnahme von Wellenhöhen im Küstenschutz.
In den Niederlanden wird gegenwärtig erprobt, wie man die Küste mehr sich selbst überlassen kann. Sand bringt man nicht mehr linienartig, sondern punktuell ein und verteilt ihn mit der natürlichen Sanddrift. Der Rest bleibt von aktiven Schutzmaßnahmen ausgenommen, natürlich bis auf die linienartigen Dünen- oder Deichsysteme. Damit erzeugt man ein System, das sich sozusagen selbst füttert.
Sie sind seit Januar 2018 Leiter der Abteilung für Hydromechanik, Küsteningenieurwesen und Seebau am LWI. Inwieweit bauen Sie die Abteilung um?
Die Fakultät hat die Denomination der Professur um den Bereich Seebau erweitert, der mir sehr wichtig ist. Seebau betrifft alles Bauen im Schelfmeer und darüber hinaus. Neu dabei ist das Thema Lebensmittelproduktion auf hoher See. Wie können wir zehn Milliarden Menschen ernähren? Maritime Eiweiße, Fisch-, Muschelproduktion und Seetang werden ein wichtiger Baustein, auch vor dem Hintergrund der Sustainable Development Goals der UN.
Als Alternativen zur bisherigen Fischwirtschaft mit den massiven Überfischungen?
Die ja ohnehin die notwendigen Steigerungen nicht mehr erbringen kann. Mit Aquakultur müssen wir uns dem blauen Ozean nähern. Dort haben wir deutlich höhere Strömungsgeschwindigkeiten und Wellen, ein klassisches Thema im Seebau. Wie können wir Anlagen, z.B. zur Nahrungsmittelproduktion, konzipieren, die gleichzeitig den Fußabdruck auf die marine Umwelt reduzieren? Als Deutsche mit unserem umweltbewussten Handeln sollten wir Anlagen entwickeln, die weltweit wettbewerbsfähig sind. Daran möchte ich zunehmend mitwirken.
Bei einem Forschungsprojekt, das ich bereits in Hannover initiiert hatte, geht es nun mit den Hannoveranern am Ludwig-Franzius-Institut um Muschelproduktion an Seilsträngen in Neuseeland. Unsere Fragestellung ist, wie man die Produktion von geschützten Bereichen in den offenen Ozean überführen kann. Wie sehen die Belastungen für solche Anlagen wirklich aus und welche Bemessungsgrundlagen benötigen wir hier für die Anwendungsfälle?
Arbeiten Sie hier interdisziplinär, beispielsweise mit Lebensmittelwissenschaftlern, zusammen?
Wir bearbeiten die rein technischen Aspekte und kooperieren eng mit marinen Biologen. In Neuseeland geht es um die Grünschalmuschel, die in Asien stark als Lebensmittel nachgefragt wird. Die Fragestellung lässt sich aber auch auf andere Spezies ausweiten. Ich habe in Hannover einmal ein Forschungsprojekt über Windenergieanlagen als „Anker“ von schwimmenden Fischkäfigen gemacht. Die Käfige sind durchströmt, Nähr- und Futterstoffe kommen rein, Schmutzstoffe werden abtransportiert etc. Das hat durchaus ein riesiges Potential.
Dennoch: Auch die Lachszucht in norwegischen Fjorden hat einen riesigen Footprint. Die Buchten, in denen in China Fischzucht betrieben wird, sind durch die zu Boden sinkenden Exkremente praktisch biologisch tot. Wir müssen Technologien entwickeln, die deutlich umweltfreundlicher sind. Das habe ich mir zum Ziel gesetzt.
Arbeiten Sie in diesem Zusammenhang auch an der Filterung von marinen Plastik?
Auch das fällt aus meiner Sicht in mein Fachgebiet. Hier sind bereits erste Masterarbeiten entstanden. Wie werden Plastikteile durch Wellen bearbeitet, wohin werden sie transportiert, wie können wir sie sammeln? Die niederländische Firma Ocean Cleanup beschäftigt sich mit Sammelsystemen, bisher leider noch ohne Erfolg. Aber wir werden von dem Thema noch mehr hören.
Verändern diese neuen Aspekte in Ihrer Abteilung auch Ihre Lehre?
Ich habe eine sehr hochwertige Lehre von meinem Vorgänger übernommen. Ich bin seit einem Jahr hier und plane das Bewährte fortzuführen. Neue Forschungsergebnisse – Stichwort Bauen in der Natur, Bauen mit der Natur – fließen nach und nach in meine Lehre ein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Fragen: Dr.-Ing. Heiko Jacobs, FK3
(Das Interview erschien zuerst im Newsletter Alumni-Bau Carolo-Wilhelmina e.V.)