Wie viel Bauhaus steckt in Niedersachsen? Auf den Spuren der Kunstschule zu ihrem 100-jährigen Jubiläum
Weiße, kubische Architektur, Stahlrohrstühle, Wagenfeld-Lampen – für viele ist das typisch Bauhaus. Doch was war Bauhaus eigentlich? Was machte es visionär? Und wo gibt es Bauhaus in Niedersachsen? Darüber haben wir zum 100-jährigen Jubiläum der Kunstschule, die zur Weltmarke wurde, mit Professorin Tatjana Schneider, Leiterin des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt, und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Arne Herbote gesprochen.
Vor 100 Jahren gründete Walter Gropius in Weimar das Staatliche Bauhaus – eine Kunstschule für Architekten, Künstler und Designer. Was war das Revolutionäre an Bauhaus?
Prof. Tatjana Schneider: Zunächst: Das Bauhaus kann man nicht als homogenes Produkt beschreiben. In der Forschung wird heute von den „Bauhäusern“ gesprochen. Das Bauhaus, worauf man sich heute bezieht, wenn man etwas populärer darüber spricht, ist das Bauhaus von Walter Gropius und vielleicht noch das Bauhaus unter Ludwig Mies van der Rohe. Hannes Meyer, der dazwischen auch zwei Jahre Direktor des Bauhauses war, wird häufig vergessen. Er hat aber auch maßgeblich die Lehre im Bauhaus vorangetrieben.
Das Revolutionäre, oder das, was damals so wegweisend war, waren eine Zusammenführung unterschiedlichster Gewerke und das aktive Fördern unterschiedlicher Ausdrucksarten. Es ging um Ausdruck, um Tanz, um Form und Gestalt. Natürlich wurden auch architektonische Objekte in den Klassen entworfen. Doch kam der Architektur erst größere Bedeutung durch das Gebäude zu, das in Dessau entstand.
Arne Herbote: Das Bauhaus entwickelte sich in Weimar aus einer Kunstgewerbeschule heraus. Walter Gropius hatte immer parallel ein Architekturbüro, das mal privatwirtschaftlich betrieben war und mal als Staatliches Bauhaus Weimar bzw. Dessau firmierte. Dort wurde Architektur von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Absolventinnen und Absolventen des Bauhaus‘ entworfen und an entsprechenden Orten realisiert. Eine eigentliche Architekturlehre ist erst unter Hannes Meyer Ende der 20er Jahren in Dessau entstanden.
1928 benannte Gropius den Schweizer Architekten Hannes Meyer als seinen Nachfolger. Er wird oft der „unbekannte Bauhaus-Direktor“ genannt. Doch hat er das Bauhaus und seine Studierenden stärker geprägt als bislang wahrgenommen?
Herbote: Sicher wurden Gropius und Mies van der Rohe allgemein stärker wahrgenommen. Aus heutiger Perspektive ist die Person Meyer ebenso spannend. In Weimar konnte sich das Bauhaus aus vielerlei Gründen anfangs noch nicht wirklich entfalten. Das passierte verstärkt ab Mitte der 20er Jahre in Dessau und ist heute noch an den Gebäuden und an den ganzen Produkten abzulesen.
Prof. Schneider: Unter Hannes Meyer gab es die totale Öffnung der Lehre, auch für Frauen. Das passierte unter Gropius nur ansatzweise. Er hat die Frauen nach der Grundausbildung auch gern in die Webereien geschickt, weil er das als angemessener fand. Erst unter Hannes Meyer hat man die Frauen auch in die Werkstätten gelassen. Der Ansatz, Design oder Produkte zu entwickeln, die einer breiten Schicht tatsächlich nützlich sein können, und Objekte zu schaffen, die für die Gesellschaft erschwinglich sind, das ist eigentlich erst in Dessau unter Meyer umgesetzt worden.
Wie äußerte sich der Ansatz „für das Volk“ zu gestalten in der Architektur?
Prof. Schneider: In den Entwürfen wurden die Nutzerinnen und Nutzer in den Vordergrund gestellt. Meyer entwickelte Projekte kooperativ und sah den Architekten als Organisator. Seine Ideen haben eine hohe Relevanz für die Architekturausbildung: die Diskussion darum, welche Disziplinen mit einfließen, wie man Umwelt gestaltet und mit wem, wer die Akteure sind und wie man sie in die Berufsprozesse mit einbezieht.
Zurückschauend muss man tatsächlich sagen, dass diese Gedanken wegweisend waren. Doch hat es sich nicht durchgesetzt. Ganz im Gegenteil. Durchgesetzt hat sich eine sehr auf Figuren bezogene Architekturlehre. Meisterklassen. Ein sehr starker Fokus auf die Professorinnen und Professoren. Meyer hat das sehr viel stärker aufgelöst.
Meyer hat den Menschen mehr in den Vordergrund gerückt. Wie wurde das umgesetzt?
Herbote: Baulich wurde relativ wenig umgesetzt. Zu den Bauhaus-Bauten aus der Ära Meyer gehören die fünf Laubenganghäuser genannten Mehrfamilienhäuser in Dessau-Törten und die Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes ADGB in Bernau, die unter Meyers Federführung von der Bauabteilung des Bauhauses realisiert worden sind. Hier kann man die Konzepte ein Stückweit sehen, aber das reicht nicht, um alles, das in der Architekturlehre ersonnen wurde, darzustellen.
Auch in Niedersachsen wird das Bauhaus-Jubiläum mit Ausstellungen und Vorträgen begangen. Welchen Einfluss hatte Bauhaus in der Region?
Herbote: Die Region zwischen Hannover, Göttingen und Braunschweig war für Walter Gropius und seine selbstständige Architektenkarriere entscheidend. Über familiäre Beziehungen – sein Schwager war in Alfeld Landrat – hatte er Kontakte zu der Unternehmerfamilie Benscheidt, so dass er ab 1911 das Fagus-Werk entwerfen und über die Jahre weiterentwickeln durfte. Dort sind dann weitere Gebäude, schon vor dem 1. Weltkrieg, und auch in der Bauhaus-Zeit in den frühen 20er Jahren entstanden. Entsprechend gibt es in Alfeld „echte“ Bauhaus-Architektur, also Gebäude, die von Angehörigen des Bauhauses während ihrer Tätigkeit im Bauhaus entwickelt, betreut und umgesetzt wurden. Dazu zählen auch Erweiterungen des Fagus-Werks sowie weitere Industriebauten.
Auch entsprechender Wohnungsbau hat in der Region stattgefunden. Bauhaus-Angehörige aus Weimar sind nach Alfeld gefahren, Schülerinnen und Schüler des Bauhauses haben Anstriche gemacht, Druckgrafik wurde für Fagus und andere Betriebe konzipiert und gedruckt. Die jeweiligen Produkte wurden ergänzend durch Tischlereien und Druckereien vor Ort gefertigt, wodurch sicherlich auch ein Methoden- und Ideentransfer in die Region stattgefunden hat. Das ist ein ganz konkreter Pfad, der nach Niedersachsen führt.
Dann gibt es viele Akteure in Kunst und Architektur in den 20er Jahren in Niedersachsen, die Ähnliches gemacht haben und die im Austausch standen mit den Bauhäuslern, so beispielsweise Otto Haesler in Celle oder in Hannover Kurt Schwitters. Das waren natürlich auch Hotspots der sich entwickelnden Moderne oder Neuen Sachlichkeit, die in einer gegenseitigen Beeinflussung mit dem Bauhaus standen. Das Bauhaus war eine wichtige Institution der Zwischenkriegszeit, das man im Netzwerk der anderen Aktiven der Zeit sehen sollte.
Prof. Schneider: Das Jubiläum ist eine Möglichkeit, das Bauhaus in seiner Fragmentierung, in seiner Netzwerkhaftigkeit ganz neu zu begreifen. Da gab es ganz viele Tendenzen, unterschiedliche Entwicklungen und Herde, an denen Sachen auch weiterentwickelt wurden.
Das Fagus-Werk gilt als einer der Ursprünge moderner Architektur und wurde 2011 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Welche gestalterischen Elemente sind dort wegweisend?
Herbote: Walter Gropius wurde 1911 zunächst beauftragt, schöne Fassaden für das Fagus-Werk zu entwerfen. Gemeinsam mit seinem Kompagnon Adolf Meyer war Gropius bestrebt, der Fabrik einen der wachsenden Bedeutung der Industrie angemessenen architektonischen Ausdruck zu geben. Sein gestalterischer Clou: die Stütze an der Ecke wegzulassen, also das Stützraster um ein halbes Feld zu verschieben und dadurch die gläserne Ecke zu schaffen, die dem Ganzen gerade aus der Ferne die Wirkung eines gläsernen Kubus verleiht.
Gropius hat diese Freiheit erhalten, einfach in Bezug auf die Fassaden, einmal das zu machen, was man Grenzen ausreizend machen könnte. Für den Auftraggeber Carl Benscheidt war gute Architektur, eine ansprechende Fassadengestaltung etwas, das er als Reklame begriff, konkret: ein gut ausschauender Betrieb direkt an einer Eisenbahnhauptstrecke gelegen.
Die Fagus-Fassade war für Gropius Karriere wichtig. Ohne das Fagus-Werk plus die Werkbund-Fabrik der Kölner Werkbund-Ausstellung 1914 wäre mit großer Wahrscheinlichkeit in Dessau das Bauhaus-Gebäude so nicht entstanden. Das Fagus-Werk wurde 1912/13 umfassend in einer Zeitschrift publiziert und somit wurde der Entwurf bekannt.
Wie sind die Ideen des Bauhaus‘ von nachfolgenden Architektengenerationen aufgenommen worden? Sind zum Beispiel Anknüpfungspunkte zwischen Bauhaus und der Braunschweiger Schule erkennbar?
Herbote: Alles, was in den 50er und 60er Jahren in der BRD an Architekturausbildung und Architekturproduktion stattgefunden hat, ist irgendwie vom Bauhaus beeinflusst. Ein Ansatzpunkt der Nachkriegsjahre war, die zwölf Jahre NS-Herrschaft so weit wie möglich auszublenden und an das anzuknüpfen, was davor in der Weimarer Republik vorhanden war. Und da ist es mehr als naheliegend, dieses leuchtende Beispiel Bauhaus, dessen Konzept und dessen Ideen zum Vorbild zu nehmen. Es gibt beim Braunschweiger Hochschullehrer Friedrich Wilhelm Kraemer eine Orientierung an den Konzepten, an der Architektur von Ludwig Mies van der Rohe. Ein gewisser Gropius- und Mies-Kult war in den 50er und in den 60er Jahren vorhanden. Dazu gehört auch, dass die TH Braunschweig Ludwig Mies van der Rohe die Ehrendoktorwürde antrug und Kraemer 1955 im Rahmen einer USA-Reise diese Urkunde überreichte.
Prof. Schneider: Es ist nicht der Bezug auf das Bauhaus selbst, sondern auf einzelne Personen und deren Wirken, die sich in ihrer Zeit im Ausland weiterentwickelt haben. Die Bauhäusler sind nach ihrer Emigration ja nicht stehen geblieben, sie haben neue Systeme, neue Technologien entwickelt.
Welche Bedeutung hat Bauhaus heute noch?
Prof. Schneider: Von Relevanz ist tatsächlich noch der Blick auf die Gesellschaft. Für wen ist die Architektur da? Deshalb auch die Rückbesinnung auf Hannes Meyer, auch wenn es ein sehr kurzes Wirken war. Architektur, die sich aus den Problemen der Gesellschaft heraus ergibt, die einen ganz konkreten Bezug hat zu dem, was um uns herum geschieht.
Und dann kann man natürlich fragen: Was ist heute relevant? Klimawandel, Wohnungsfrage, Migration – Themen, mit denen sich die Architektur nur sehr zäh auseinandersetzt. Die gesellschaftlichen Fragen bleiben oft außen vor. Da spielt das Bauhaus eine große Rolle, weil es einfach den Mut hatte, sich zumindest das Ziel zu setzen, anders im Leben, in der Welt verankert zu sein.
Herbote: Es sind weniger die gestalterischen Lösungen, die man eins zu eins übertragen könnte oder sollte. Interessant ist das Bauhaus als Konzeption, eine solche Institution zu schaffen, um Neues auszuprobieren, anders zu denken, auch gegen Konventionen zumindest gedanklich zu verstoßen.
Was sollte man sich in diesem Jubiläumsjahr und darüber hinaus in der Region unbedingt ansehen?
Herbote: Ich empfehle Architekturstudierenden immer: Wenn man in Braunschweig studiert, sollte man sich das nahegelegene Fagus-Werk einmal angesehen haben. Ansonsten gibt es in der niedersächsischen Provinz versteckt sehr spannende Bauten, zum Beispiel in Celle, Gebäude von Otto Haesler, die jedoch nicht Bauhaus sind. Oder auch in Osterholz-Scharmbeck eine Ziegenbock-Station von Hans Martin Fricke. Ein ganz kleines Gebäude, wie man sich Bauhaus-Architektur landläufig vorstellt: weiß, kubisch.
Spannend und erkenntnisreich kann es auch sein, in der eigenen Familie zu schauen, welche Leuchten oder welches Geschirr Großeltern oder Urgroßeltern in der Zeit angeschafft haben. Dabei kann man sehen, wie die Produkte des Bauhaus‘ in die Breite hineingewirkt haben.