3. August 2020 | Magazin:

Wenn der Verkehr selbst zum Manager wird Professor Bernhard Friedrich und Andrea Thiele zum Graduiertenkolleg 1931 „SocialCars“

Staus vermeiden, Verkehrsfluss verbessern, Umweltbelastungen reduzieren und die Verkehrssicherheit erhöhen – das sind die Ziele urbanen Verkehrsmanagements. Doch wie können die einzelnen Akteure im Straßenverkehr das Verkehrsnetz optimal nutzen, so dass diese Ziele erreicht werden? Das ist die Kernfrage im Graduiertenkolleg 1931 „SocialCars – Kooperatives (de)zentrales Verkehrsmanagement“ im Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“ der Technischen Universität Braunschweig. Bianca Loschinsky hat mit Professor Bernhard Friedrich, Leiter des Instituts für Verkehr und Stadtbauwesen und Sprecher des Graduiertenkollegs, sowie Koordinatorin Andrea Thiele über die Forschung im interdisziplinären Graduiertenkolleg gesprochen.

Professor Bernhard Friedrich, Sprecher des Graduiertenkollegs SocialCars. Bildnachweis: Markus Hörster/TU Braunschweig

Herr Professor Friedrich, das Graduiertenkolleg 1931 trägt den Namen „SocialCars“. Was bedeutet in dem Zusammenhang „social“?

Prof. Friedrich: Erst einmal bedeutet „social“  die Teilhabe aller, an der Mobilität zu sichern. „Cars“ bezieht sich in diesem Kontext nicht nur auf den Autoverkehr, sondern auf die Mobilität insgesamt. Dazu gehören der öffentliche Verkehr und auch der Radverkehr. Der Mensch als Verkehrsteilnehmer wird in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt.

Was versteckt sich hinter einem kooperativen (de-)zentralen Verkehrsmanagement?

Prof. Friedrich: Die Forschung im Graduiertenkolleg untersucht das Zusammenwirken von zentraler (systemoptimaler) Steuerung und dezentralem (nutzeroptimalem) Handeln sowie die Entwicklung von dynamischen Modellen, in denen beide Sichten berücksichtigt werden.

Dabei geht es um das Zusammenspiel individueller Freiheiten (dezentral), aber innerhalb eines Raums, der zentral vermittelt wird. Der Raum kann im einfachsten Fall die Straßenverkehrsordnung sein. Aber je nach Situation können es auch Vorgaben aus der Verkehrsmanagementzentrale sein, nach denen man lokal handeln kann: Zugangsbeschränkungen oder auch Privilegierungen, wie Geschwindigkeitsregelungen und Abbiegeverbote.

Ein Beispiel: Wenn sich an bestimmten Stellen Fußgänger und Radfahrer als eine größere Gruppe als der Kfz-Verkehr darstellt, wird diese Gruppe eher privilegiert, es wird ihnen Vorrang eingeräumt und der Verkehr um sie herum verlangsamt.

Verkehr an sich ist sehr komplex. Inwieweit kann man Verkehr überhaupt planen und steuern?

Prof. Friedrich: Man muss den Verkehr steuern und planen. Die planerische Ebene ist langfristig angelegt und bildet die Grundlagen des Verkehrssystems, wie die Verkehrsnetze aus Straßen und Schienenverkehrswegen. Wie sich der Verkehr entwickelt, ist ein gesellschaftspolitischer Prozess. Es gibt in den Städten eine Entwicklung von einer autogerechten Stadt über die verkehrsgerechte Stadt über den stadtgerechten Verkehr zur Verkehrsberuhigung. Diese Entwicklungen sind Ausdruck der gesellschaftlichen Willensbildung.

Darunter gibt es die eher dynamische Steuerung, unter der man heute das Verkehrsmanagement versteht: Ampeln oder Geschwindigkeitsanzeigen, mit denen man auf den Verkehr Einfluss nimmt bis hinein in die Fahrzeuge, über die die Fahrer Informationen erhalten, welche Route sie am besten wählen, damit sie nicht im Stau stehen oder verträglicher unterwegs sind.

Oder wenn beispielsweise eine hohe Schadstoffkonzentration gemessen wird und dafür kurzfristig Maßnahmen initiiert werden, wie den Wechsel der Routenwahl oder Zufahrtsbeschränkungen.

Welche Rolle spielen die Änderungen im Verkehr, die auch durch gesellschaftliche Willensbildung zustande kommen, bei der Forschung im Graduiertenkolleg?

Prof. Friedrich: Wir haben verschiedene Themen, die sich mit Radverkehr, Shared Space oder öffentlichem Verkehr beschäftigen. Eine Fragestellung ist zum Beispiel: Wie kann man die Verkehrsnetze des Öffentlichen Verkehrs auch unter Nutzung neuer Mobilitätsangebote optimieren, so dass sie flexibler und attraktiver werden und vielleicht auch günstiger? Wir haben zwar insgesamt mit SocialCars einen großen Themenbereich vorgegeben, aber die Suche nach den Promotionsthemen der einzelnen Doktorandinnen und Doktoranden läuft individuell.

Andrea Thiele, Koordinatorin im Graduiertenkolleg SocialCars. Bildnachweis: Isabell Massel/TU Braunschweig

Wie viele Promovierende wirken momentan im Graduiertenkolleg mit?

Thiele: Im Graduiertenkolleg haben wir derzeit zwölf Doktorandinnen und Doktoranden, zwölf assoziierte Doktorandinnen und Doktoranden sowie zwei DAAD-Stipendiatinnen und Stipendiaten. An den am Graduiertenkolleg beteiligten Instituten forschen jeweils zwei Promovierende. Viele der Doktorandinnen und Doktoranden befinden sich gerade auf der Ziellinie zum Abschluss ihrer Dissertation. Seit Beginn des Graduiertenkollegs wurden insgesamt 14 Promotionen abgeschlossen.

Es freut uns besonders, dass wir ein ausgeglichenes Verhältnis von weiblichen und männlichen Promovierenden haben.

Unser Graduiertenkolleg ist zudem sehr international, rund 50 Prozent der Promovierenden kommen aus anderen Ländern, unter anderem aus China, Indien, Bangladesch, Serbien, Albanien, Syrien, Rumänien, Chile und Brasilien.

Das Graduiertenkolleg beschäftigt sich mit der Frage, wie die einzelnen Akteure im Straßenverkehr die Verkehrsinfrastruktur optimal nutzen können, so dass sich die Sicherheit erhöht und Staus und Umweltbelastungen vermieden werden. Gibt es dazu bereits Erkenntnisse?

Prof. Friedrich: Natürlich ist die Forschung im Graduiertenkolleg zunächst grundlagenorientiert. Mit diesen Grundlagen sind jedoch Methoden verbunden, die wir auch in der Praxis einsetzen können. Ich denke dabei zum Beispiel an ein Verfahren, das von einem Doktoranden entwickelt wurde: die Optimierung der ÖPNV-Netze unter Nutzung von Mobilitätsdienstleistungen. Verschiedene Arbeiten beschäftigen sich auch mit der Verkehrsnachfrage-Modellierung. Auf der Grundlage von Bevölkerungsstrukturdaten der Städte wird die Verkehrsnachfrage ermittelt und zwar über agentenbasierte Systeme. Das heißt die Gesamtbevölkerung einer Stadt wird synthetisch abgebildet. Jeder Agent, also jede Person, hat einen Aktivitätenplan, der realen Verhältnissen entspricht. Damit entsteht Verkehr. Dieser wird auf den Verkehrsnetzen, die zur Verfügung stehen, nachsimuliert, so dass die Routen- und die Verkehrsmittelwahl realistisch abgebildet wird. Aus diesen Modellen kann man sehr viel ablesen, beispielsweise: Was bringt es, wenn ich ein neues Mobilitätsangebot – wie Car-Sharing oder Ride-Sharing – einführe? Wo sind die Grenzen der Preise, die man dafür nehmen kann? Wie groß sind der gesellschaftliche Nutzen oder auch gesellschaftliche Kosten? Einer unserer Absolventen beschäftigt sich jetzt in der Industrie mit Verkehrsnachfragemodellen für kommerzielle Anwendungen. Das ist sozusagen ein 1:1-Transfer. Natürlich nimmt er nicht die Software, aber sein Wissen mit.

Zusammenspiel zentraler und dezentraler Verkehrsmanagementstrategien in SocialCars. Bildnachweis: SocialCars/TU Braunschweig

Wie können bei der Steuerung des Verkehrs gesellschaftliche und individuelle Interessen gleichberechtigt berücksichtigt werden?

Prof. Friedrich: Der Ausgleich ist in der Tat schwierig, das ist ein ständiger Verhandlungsprozess. Die planerische Ebene gibt den Rahmen vor. Der Ausgleich geschieht dann lokal ereignisorientiert, wenn beispielsweise ein Fahrzeug des Öffentlichen Verkehrs Vorrang an einer Ampel oder durch eine extra Busspur erhält.

Verkehr hat den Vorteil, dass man ihn beobachten kann, aber er ist sehr dynamisch und räumlich verteilt. Man kann ihn in seiner Gesamtheit schwer mit Messgeräten erfassen. Die Messung ist nur an verschiedenen Stellen lokal möglich. Aus diesen lokalen Messungen auf das große  Ganze zu schließen, ist auch eine Herausforderung, die in den Dissertationen häufig Thema ist.

So ergänzen wir lokale Beobachtungen mit Bewegungsdaten, so genannten Floating Car Data oder Location Based Services Data, die aus Smartphones gewonnen werden und gewinnen auf diese Weise ein vollständiges Bild des Verkehrsablaufs über Raum und Zeit. Wir versuchen auch anhand der Daten zu rekonstruieren, mit welchen Verkehrsmitteln Menschen unterwegs sind.

Das Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs besteht aus sechs Forschungsbereichen, die sich zu drei Forschungsfeldern gruppieren: Psychologische und ökonomische Treiber/Einflussfaktoren, (De-)zentrales kooperatives Verkehrsmanagement und Technologische Treiber/Einflussfaktoren. Damit ist das Graduiertenkolleg sehr breit aufgestellt.

Prof. Friedrich: Die Bandbreite unserer Forschung ist sehr groß, weil wir stark interdisziplinär arbeiten. Mit dem Graduiertenkolleg haben wir auf jeden Fall die Zusammenarbeit über die Disziplinen verbessert. Wir haben von der Verkehrsplanung zur Verkehrspsychologie oder auch zur Kommunikationstechnik und Geoinformatik einen kleinen Brückenschlag geschafft.

Eine geschützte Radspur im Fahrradsimulator. Bildnachweis: SocialCars/TU Braunschweig

So geht es im Forschungsfeld A um den Einzelnen, den Menschen, den Verkehrsteilnehmer als Autofahrer und Radfahrer. In diesem Forschungsbereich beschäftigen sich die Kolleginnen und Kollegen um Professor Mark Vollrath vom Institut für Psychologie, Ingenieur- und Verkehrspsychologie unter anderen um Fragen der Routenwahl: Wie treffen die einzelnen Personen Entscheidungen, wie können sie dabei unterstützt werden? Und weitergehend: Wie fühlen sie sich in automatisierten Fahrzeugen? Wo sind die Grenzen?

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Professor Dirk Mattfeld vom Institut für Wirtschaftsinformatik, Abteilung Decision Support,  setzen sich mit der Entscheidungsunterstützung im Logistikbereich und der Integration von Shared Mobility Systemen in den städtischen Verkehr auseinander.

Mit was beschäftigen sich die anderen Forschungsfelder?

In Forschungsfeld C geht es um die technologischen Treiber, hier speziell um die Car-to-X Kommunikation sowie dynamische Karten und Kartendienste. Diese beiden Bereiche des Graduiertenkollegs werden durch das Institut für Kartographie und Geoinformatik der Leibniz Universität Hannover (Prof. Monika Sester) und durch das Institut für Kommunikationstechnik der Leibniz Universität Hannover (Prof. Markus Fidler) vertreten. Wir haben interessante gemeinsame Arbeiten, in denen wir Verkehrsfluss-Simulationen mit Kommunikationssimulationen kombinieren, eingebettet in Stadtmodellen. Dabei können wir simulieren, welche Informationen von welchem Verkehrsteilnehmer an den anderen weitergegeben werden kann bzw. nicht, wenn der Radius durch die baulichen Gegebenheiten eingeschränkt wird.

Der Bereich B beschäftigt sich mit dem zentralen und dezentralen Verkehrsmanagement. Dort forschen das Institut Informatik der TU Clausthal unter der Leitung von Prof. Jörg Müller und unser Institut für Verkehr und Stadtbauwesen. Der Schwerpunkt ist die Modellierung des Verkehrs und der Verkehrsnachfrage. In Verkehrsfluss- und Interaktionsmodellen bilden wir zum Beispiel ab, was passiert, wenn ein Fußgänger auf ein Auto trifft: Wer weicht wie aus? Wird es eng? Welche Geschwindigkeiten werden gefahren? Welche Staus ergeben sich? Aufbauend auf diesen Modellen können wir Optimierungsstrategien für das Verkehrsmanagement entwerfen. So hat sich eine Dissertation damit beschäftigt zu analysieren, welche Linksabbieger in einem Verkehrsnetz aus Sicherheits- und Effizienzgründen verboten werden sollten.

Über fast alle Fachdisziplinen hinweg arbeiteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an dem Gemeinschaftsprojekt „Kooperative Parkplatzsuche“. Um was ging es dabei?

Parkplätze haben etwas ganz Dynamisches, sind manchmal frei, meistens belegt. Wenn ich keinen benötige, fahre ich oft an einem freien Parkplatz vorbei, den aber jemand anders braucht, der jedoch von diesem nicht weiß. Diese Informationen so zu verteilen, dass möglichst wenig Parksuchverkehr entsteht, war das Ziel des interdisziplinären Projekts. Ein klassisches Simulations-Optimierungsprojekt: In einem synthetischen Verkehrsnetz haben wir den Verkehr simuliert, einschließlich der Parkvorgänge und der freien Parkplätze. Neue Technologien in der Fahrzeugkommunikation (vehicle-to-vehicle sowie vehicle-to-infrastructure) könnten es Fahrern ermöglichen, Informationen über ihre Parkplatzsuche auszutauschen und so die Suche effizienter gestalten. Das interdisziplinäre Projekt war sehr gut geeignet, um die Kompetenzen aus den unterschiedlichen Disziplinen zusammenzubringen und ein Verständnis zu verstärken.