26. November 2020 | Magazin:

Von der narrativen Konstruktion von Mythen bis Fake News Julia Schöll ist neue Professorin am Institut für Germanistik

Als Kind zweier Mathe- und Physiklehrer passt sie gut an eine Technische Universität, sagt Julia Schöll. Seit dem 1. Oktober ist sie neue Professorin für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Carolo-Wilhelmina. Wie Texte von Thomas Mann heute eine fast gespenstische Aktualität gewinnen, was für sie gute Lehre ausmacht und welches ihr Lieblingsbuch ist, hat uns Julia Schöll im Interview erzählt.

Julia Schöll ist neue Professorin für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik. Bildnachweis: Ingo Foertsch

Frau Professorin Schöll, Sie sind neue Professorin am Institut für Germanistik. Sind Sie gut an der Carolo-Wilhelmina und in Braunschweig angekommen?

Ja, digital bin ich gut angekommen und von meinem Team und den Kolleg*innen sehr herzlich empfangen worden. Jetzt würde ich gerne auch noch real ankommen und alle live kennenlernen. Ich hoffe, das wird bald möglich sein.

Wieso haben Sie sich für die TU Braunschweig entschieden?

Mancher Geisteswissenschaftler mag sich an einer technischen Universität fremd fühlen, mich inspiriert das eher. Meine Eltern waren Mathe- und Physiklehrer, von daher passe ich gut an eine TU. Und die Übernahme eines Lehrstuhls ist natürlich immer eine große Chance.

In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich unter anderem mit dem Werk Thomas Manns. Was macht seine Literatur heute so aktuell?

Ich weiß gar nicht, ob Thomas Manns Texte so aktuell sind, sie haben natürlich auch etwas wunderbar Nostalgisches und Altmodisches.

Wenn ich mir aber ansehe, wie Thomas Mann im Roman „Joseph und seine Brüder“ unsere westliche Welt aus einer Vielzahl unterschiedlichster kultureller Strömungen ableitet, dann zeugt dies von einem multikulturellen Bewusstsein, von dem ich mir dieser Tage oft mehr wünsche.

Und dann natürlich die Novelle „Der Tod in Venedig“: In Venedig bricht eine Seuche aus (die Cholera), von der alle wissen, über die aber niemand offen redet, um die Touristen nicht abzuschrecken – dieser Text gewann dieses Frühjahr eine fast gespenstische Aktualität.

In welchen Bereichen werden Sie in Braunschweig forschen?

Ich bereite gerade zwei große Projekte vor: ein umfassendes Editionsprojekt zu Autorinnen des 18. Jahrhunderts und ein Projekt zu den Poetologien der Gegenwartsliteratur. Und daneben laufen eine ganze Menge kleinerer Unternehmungen, die mich erfreulicherweise auch mit Kolleg*innen aus anderen Fächern in Kontakt bringen.

Welche Literatur lesen Sie außerhalb Ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit?

Das ist für Germanist*innen die falsche Frage. Bei uns ist das Leseverhalten innerhalb und außerhalb des Jobs weitgehend identisch: gute Literatur jeglicher Couleur!

Was ist Ihr Lieblingsbuch?

Schwierige Frage. Muss ich mich entscheiden? Wenn es wirklich das eine Buch sein muss, dann ist es wohl Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“. Oder Goethes „Wilhelm Meister“. Oder Heinrich von Kleists Drama „Penthesilea“. Oder … (ad infinitum)

Seit der Corona-Pandemie hat sich das Arbeiten, Forschen und Lehren verändert. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für das Wintersemester?

Am meisten fehlt uns allen natürlich die persönliche Präsenz. Mit den Studierenden wirklich in Kontakt zu kommen, trotz ausschließlich digitaler Lehre, das ist für mich eine Aufgabe, die ich ernst nehme und die mich fordert.

Und für mich als neu Angekommene an der TU Braunschweig ist es eine große Herausforderung, die Verwaltungsabläufe zu durchschauen. Das ist mühsam, wenn die Flurgespräche und kurzen Dienstwege wegfallen.

Welche Themen werden Sie in Ihren Lehrveranstaltungen behandeln?

Ich unterrichte im Moment unter anderem Kurse zu Bertolt Brecht und zu Erzähltexten des 19. Jahrhunderts. Und ich halte eine Vorlesung zur Erzähltheorie, in der es unter anderem um den Unterschied zwischen faktischem und fiktionalem Erzählen geht, um die narrative Konstruktion von Mythen oder die Konstruktion von Identität durch Erzählen – alles Themen, die im Zeitalter der Fake News und Verschwörungstheorien sehr aktuell sind. Das merke ich auch an den interessierten Rückmeldungen der Studierenden.

An der Universität Bamberg wurden Sie für Ihre hervorragenden Leistungen in der Hochschullehre ausgezeichnet. Was macht für Sie gute Lehre aus?

Offenheit, Wachheit, Interesse und gegenseitiger Respekt. Den anderen ernst zu nehmen und einander auf Augenhöhe zu begegnen.

Was möchten Sie den Studierenden für das Wintersemester mit auf den Weg geben?

Durchhalten! Es wird alles bald besser.