11. November 2020 | Magazin:

Vision für Aaltos Heilig-Geist Kirche Architekturstudent Marlon Hecher gewinnt „Wolfsburg Award for urban vision“

Wie können Kirchengemeinden auf ein stetiges Schrumpfen ihrer Mitglieder reagieren? Können Kirchen temporär verpachtet werden und so wieder Treffpunkt von Bürgerinnen und Bürgern werden? Für Marlon Hecher, Architekturstudent der Technischen Universität Braunschweig, ist dies durchaus vorstellbar. Mit seinem Umnutzungsvorschlag für die vom finnischen Architekten Alvar Aalto entworfene Heilig-Geist Kirche hat er jetzt den ersten Preis beim „Wolfsburg Award for urban vision“ gewonnen. Der Ideenwettbewerb fordert alle zwei Jahre Studierende aus ganz Europa auf, Vorstellungen für eine moderne Weiterentwicklung Wolfsburgs zu entwerfen. Die Auszeichnung ist mit 2.500 Euro dotiert.

Preisträger Marlon Hecher (r.) mit Stadtbaurat Kai-Uwe Hirschheide. Bildnachweis: Stadt Wolfsburg/Lars Landmann

Mit seinem Entwurf „Aalto Forum“ hat Marlon Hecher für den Innenraum der Kirche ein maßgeschneidertes, variables Möbel- und Schienensystem kreiert, das verschiedene Nutzungen durch die Menschen aus dem umliegenden Stadtteil ermöglicht. Die Bankreihen sind verschwunden. Stattdessen ein langer Tisch, eine Theke, eine Kletterinsel, eine Garderobe, eine Bar. Das Erlebnis der besonderen Architektur des Baudenkmals hat der Student dabei berücksichtigt. „In einem neuen Bodenbelag wird ein strahlenförmiges Schienensystem angelegt, das sich Aaltos Achssystem unterwirft und die dynamische Raumwirkung widerspiegelt. Entlang dieser Schienenachsen lassen sich nun verschiedene Möbelstücke aus dem Vestibül ziehen“, so Marlon Hecher in seiner Entwurfsbeschreibung. Es entstehen eine Kantine für gemeinsames Mittagessen, Seminarräume, eine Kindertagestätte oder ein offenes Büro. Durch eine flexible Bestuhlung werden abends auch Veranstaltungen möglich.

Die Jury lobte an dem Entwurf, dass er nicht versucht, eine völlig neue Nutzung für das Gebäude zu erfinden, sondern den Raum als Treffpunkt und Versammlungsort für die Menschen im Quartier erhält und neu definiert. Gerade in seiner Zurückhaltung sei er visionär. „Visionäre Ideen müssen nicht immer gleichbedeutend sein mit unbaubaren futuristischen Szenarien“, erläutert Stadtbaurat Kai-Uwe Hirschheide. „Die Arbeit ‚Aalto Forum‘ ist nicht nur ein gut durchdachter Entwurf, sondern sie gibt auch einen grundsätzlichen Denkanstoß für den Umgang mit dem für unsere Stadt so wichtigen baukulturellen Erbe der 1950er und 1960er Jahre.“

Marlon Hecher, „Aalto Forum“, 1. Preis Wolfsburg Award for urban vision 2020: Der Preisträger fügt in die Heilig-Geist-Kirche von Alvar Aalto ein Möbelsystem auf Schienen ein, das unterschiedliche Raumsituationen und Nutzungen möglich macht. Bildnachweis: Marlon Hecher

Neuprogrammierung besonderer Räume

Entstanden ist die Gewinnerarbeit bei Professorin Almut Grüntuch-Ernst, Leiterin des Instituts für Entwerfen und Gebäudelehre (IDAS) der TU Braunschweig. „Ich freue mich über die Auszeichnung. Es ist schön, dass die Entwurfsarbeit aus der Universität in der Ausstellung sichtbar wird und einen Beitrag für die gesellschaftspolitische Diskussion leisten kann“, sagt Professorin Grüntuch-Ernst. „Bestandsgebäude sind die materielle und kulturelle Ressource für eine nachhaltige Zukunft. In der Entwurfslehre am IDAS arbeiten wir regelmäßig an Transformationsfragen, denn viele Räume und Funktionen müssen neu verhandelt werden, um lebendig zu bleiben. Leerstehende Sakralräume sind ein wertvolles bauliches Erbe und eine große konzeptionelle und gestalterische  Herausforderung. Gefragt sind Ideen für eine Neuprogrammierung dieser besonderen Räume – eine Transformation für neue Nutzungen, die Atmosphäre und Aura der Kirche bewahren und das Gemeinwesen stärken. Im letzten Semester haben unsere Studierenden spannende Entwurfsideen für die Zukunft der Heilig-Geist Kirche von Alvar Aalto in Wolfsburg entwickelt. Marlon Hecher überzeugt mit seinem Entwurf:  Die Transformation ist klug konzipiert und sensibel gestaltet  – Raumqualitäten bleiben erhalten und die Zukunft offen.“

Mit seiner Idee konnte sich Marlon Hecher gegen 34 Mitbewerberinnen und Mitbewerber durchsetzen Insgesamt beträgt die Preissumme 5.000 Euro. Neben dem ersten Preis wurden drei Anerkennungen vergeben. Eine ging ebenfalls nach Braunschweig: Mohammad Reza Abdollahi Bidhendi wurde für seine künstlerische Installation „Far from Home“ ausgezeichnet, die durch eine Virtual-Reality-Brille erlebbar ist. Das Projekt verwebt subjektive Perspektiven mit historischer und zukünftiger Stadtentwicklung.

Alle neun nominierten Arbeiten wurden in einer gedruckten Wettbewerbsdokumentation sowie unter www.wolfsburg.de/wolfsburgaward veröffentlicht. Die vier prämierten Arbeiten sind bis zum 9. Dezember in einer Ausstellung im Schaufenster des Alvar-Aalto-Kulturhauses am Rathausplatz, Porschestraße 51, in Wolfsburg zu sehen.