Unternehmen als soziotechnische Systeme Kompetenzen, Prozesse und Produkte optimieren durch Advanced Systems Engineering
Heute sind Produkte nicht einfach nur Produkte. Sie sind verknüpft mit digitalen Dienstleistungen und Prozessen. Das erfordert neue Qualifikationen von Mitarbeiter*innen, die ständige Anpassung der Arbeitsprozesse und die Weiterentwicklung der Produkte zum Beispiel durch Digitalisierung, Vernetzung und Integration von KI-Funktionen. Zusammengefasst wird das unter dem Begriff des „Advanced Systems Engineering“. Aber wie kann man dieses System in einem Unternehmen einführen und was ist dafür nötig? Das Institut für Konstruktionstechnik (IK) und das Institut für Psychologie arbeiten gemeinsam mit Partnern im Forschungsprojekt RePASE, um das zu erforschen. Dazu betrachten sie Unternehmen als soziotechnische Systeme. Diese ganzheitliche Sichtweise hilft, Wechselwirkungen und Abhängigkeiten im Unternehmen zu finden und zu optimieren. Im Interview dazu Tobias Huth vom IK und Victoria Zorn vom Institut für Psychologie, Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie.
Praxisbeispiel Automobilwirtschaft: Könnte man mit „Advanced Systems Engineering“, kurz ASE, den Wandel vom Verbrenner zu alternativen Antrieben und Fahrkonzepten besser in den Griff bekommen?
Tobias Huth: Heutige Fahrzeuge kann man bereits als Advanced Systems ansehen. Sie verfügen über (intelligente) Assistenzsysteme und sind mit Diensten und Dienstleistungen verknüpft. Im Bereich der Automobilwirtschaft werden bereits viele Anstrengungen unternommen und Ansätze erarbeitet, um der immer weiter steigenden Komplexität innerhalb der Fahrzeuge – die bspw. aus neuen Antriebskonzepte aber auch neuen Fahrfunktionen und Assistenzsystemen resultiert – zu begegnen. Hierbei werden auch sich verändernde Bedarfe von Qualifikationen und Kompetenzen der Mitarbeiter*innen mitbetrachtet. Auch die Notwendigkeit, die Entwicklungsabläufe anzupassen, wurde von den Herstellern erkannt. Man kann also sagen, dass die die ASE zugrundeliegenden Ideen im Bereich der Automobilwirtschaft bereits als „zarte Pflänzchen“ vorhanden sind.
Mit den Ergebnissen aus dem Projekt RePASE wollen wir einen Beitrag zur Entwicklung und branchenübergreifende Einführung von ASE leisten, von dem sowohl KMU als auch Großunternehmen profitieren können.
Was erforscht das Institut für Konstruktionstechnik bei RePASE?
Tobias Huth: Forschungsschwerpunkte des Instituts für Konstruktionstechnik liegen im Bereich der Entwicklungsprozesse und dem Projektmanagement sowie der modellbasierten Entwicklungsmethoden. Wir beschreiben Prozesse durch rechnerinterpretierbare Modelle. Hierzu beschreiben wir nicht nur die Abfolge von Aktivitäten im Prozess, sondern auch die benötigten bzw. erzeugten Informationen, die eingesetzten Methoden sowie Softwaretools. Hierdurch kommen wir in die Situation, dass wir das soziotechnische System der „Entwicklungsorganisation“ beschreiben und Abhängigkeiten erfassen bzw. aufdecken können. Darauf aufbauend wollen wir einerseits erarbeiten, wie Entwicklungsprozesse im Verlauf der Entwicklungsprojekte an den aktuellen Projektstatus angepasst bzw. eine Anpassung unterstützt werden kann. Hierbei ist bspw. ein Überspringen von Aktivitäten oder eine Anpassung der Reihenfolge denkbar. Andererseits helfen uns die Modelle auch dabei, ASE-Methoden in der bestehenden Organisation einzuführen und für eine Einführung anzupassen.
Im Bereich der Entwicklungsmethoden fokussieren wir uns auf Methoden, die die zu entwickelnden Produkte/Systeme durch Modelle (also abstrahierte Beschreibungen der Systemelemente und deren Beziehungen untereinander) beschreiben. Hierbei fokussieren wir uns nach aktueller Planung auf Methoden im Bereich des Anforderungs- und Variantenmanagements.
Was sind die Forschungsschwerpunkte der Abteilung für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie bei RePASE?
Victoria Zorn: Wir erforschen im Projekt die Bereiche Reflexion sowie Lernen & Kompetenz. In Bezug auf Reflexion erarbeiten wir mit den Kolleg*innen aus den Ingenieurswissenschaften, wie man Reflexion strukturiert und systematisch im Produktentwicklungsprozess nutzbar machen kann. Wir bringen dazu unserer psychologischen Expertise im Bereich Reflexion ein. Wenn es um einzelne Personen oder Teams geht, nutzen wir – oft aufbauend auf Feedbacktools – Reflexion schon länger gezielt, um Veränderungen bzw. kontinuierliche Verbesserung anzustoßen. Wir bringen uns hier daher besonders bei der Gestaltung von Reflexionsmethoden ein, die im Produktentwicklungsprozess von Mitarbeitenden eingesetzt werden können.
Darüber hinaus beschreiben wir, welche Kompetenzen Mitarbeitende für Advanced Systems Engineering idealerweise benötigen. Diese Profile nutzen wir dann zusammen mit den Anwendungspartner, um den Status Quo relevanter Kompetenzen festzustellen. Wir konzipieren zusammen mit den Kolleg*innen aus den Ingenieurswissenschaften Strategien und Formate, um die (Weiter-)Entwicklung von Kompetenzen zu ermöglichen. Wir erarbeiten, wann welche Kompetenz im Prozess benötigt wird und wie sie bei Bedarf arbeitsintegriert entwickelt werden kann.
Reflexion beschreiben Sie als Schlüsselaktivität in der Produktentwicklung. Wie kann man sich das vorstellen?
Victoria Zorn: Reflexion an sich ist das gezielte Nachdenken über eigene Handlungen, Gefühle usw. Auf Ebene der individuellen Mitarbeitenden passiert dies implizit schon, wenn diese überlegen, wie sie bestimmte Fehler zukünftig vermeiden oder Arbeitsschritte besser abschließen können. Dies kann man auch auf Team- und organisationaler Ebene nutzen, um Prozesse oder Produkte nachhaltig zu optimieren, um mit einer zunehmenden Komplexität umzugehen, die sich im Vorhinein nicht durch sorgfältige Planung regeln lässt. Dazu muss allerdings die Reflexion strukturiert und systematisiert werden, weil wesentlich mehr zu bedenken ist als bei individueller Reflexion. Dies kann dann zum Beispiel so aussehen, dass man für Prozesse plant, wann im Prozess welche Personen(gruppen) worüber und mit welchem Ziel reflektieren. Die Ergebnisse der Reflexion können dabei helfen, die Unterschiede zwischen vorgegebenen und gelebten Prozessen innerhalb der Organisation nachzuvollziehen. Auf dieser Grundlage kann man wiederum die vorgeschriebenen Prozesse aktualisieren. Reflexion ist also kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug zur kontinuierlichen Verbesserung und zum organisationalen Lernen.
Mitarbeiter*innen spielen bei Advanced Systems Engineering eine entscheidende Rolle. Welche Anforderungen und Kompetenzen benötigen sie?
Tobias Huth: Die Beantwortung der Frage, welche Kompetenzprofile Mitarbeiter*innen zukünftig und insb. im Kontext des ASE benötigen, ist unter anderem eines der Ziele, dass wir, also das Institut für Psychologie, Abteilung AOS, und das Institut für Konstruktionstechnik im Rahmen des Projektes gemeinsam mit den Kollegen*innen des Instituts für Maschinenwesen (IMW) der TU Clausthal erforschen wollen. Erste Untersuchungen zu dem Bereich gibt es bereits aus dem Begleitprojekt der Förderlinie „AdWiSE“. Allgemein kann bereits heute festgehalten werden, dass gleichermaßen eine Fach- und Methodenkompetenz sowie entsprechende Personal- und Sozialkompetenzen gefordert werden. Darüber hinaus ist ein „Systemdenken“ nötig, um einerseits die Abhängigkeiten innerhalb des Betrachtungsgegenstandes, andererseits auch die Abhängigkeiten mit dessen Umfeld zu erfassen.[1]
Victoria Zorn: Wenn man sich die Arbeiten des Begleitprojektes AdWiSE anschaut, findet man dort schon erste Kompetenzen, die Unternehmen als wichtig bewerten. Dort sieht man sogenannte T-Profile, d. h. eine hohe fachliche Kompetenz in der eigenen Disziplin und ergänzend dazu eine breite Basis an überfachlichen Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationskompetenz, Verständnis für komplexe Systeme, Flexibilität usw., um die interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die übergreifende Anforderung steigender Produktkomplexität gut zu bewältigen. Wir konkretisieren diese sehr allgemeinen Kompetenzen dann für unsere Anwendungspartner*innen und haben im Projekt eher den Fokus darauf, die benötigen Kompetenzen im Entwicklungsprozess zu verorten und weiter zu entwickeln.
Wie soll das Ergebnis am Ende des Forschungsprojekts aussehen? Was machen Sie mit den neuen Erkenntnissen?
Tobias Huth: In das Verbundprojekt sind Anwendungspartner unterschiedlicher Branchen (Anlagen- und Maschinenbau sowie Schienenfahrzeugtechnik) eingebunden. Hierdurch können sowohl branchenspezifische als auch allgemeine Anforderungen und Hemmnisse bei der Einführung und Nutzung von Advanced Systems Engineering identifiziert werden. Die entwickelten Kompetenzmodelle, Reflexionsmethoden und Tools werden mit moderatem Aufwand durch die erarbeiteten Adaptions- und Einführungsstrategien in weiteren Unternehmen eingesetzt werden können. Potentielle Nutzer sind sämtliche Unternehmen, die Produkte mit zunehmend softwaregeprägten Funktionen entwickeln und produzieren und ihre Produkte zu Advanced Systems weiterentwickeln. Weiter sollen ermittelte Kompetenzanforderungen in die Hochschulausbildung oder Weiterbildungskonzepte einfließen.
Victoria Zorn: Wir werden die einzelnen Erkenntnisse mit den Anwendungspartnern zu übergreifenden Ergebnissen zusammenfügen, die dadurch auch für andere Unternehmen, vor allem KMU, nutzbar sein sollen. Für unseren Bereich sind das prozessgebundene Kompetenzbeschreibungen, wirksame Maßnahmen zur Förderung von Reflexion und Kompetenzaufbau sowie erprobte Empfehlungen zur guten Arbeitsgestaltung für das Systems Engineering.