7. Dezember 2021 | Magazin:

Tatort Chemie-Labor Dr. Luzie Semmler über Kreativität im Chemie-Unterricht

Rot-weißes Absperrband klebt quer über der Tür des Chemie-Labors im Institut für Fachdidaktik der Naturwissenschaften. Ein Polizeisiegel markiert den Tatort. Polizeiabsperrung. Betreten verboten! Was einen im ersten Moment zusammenzucken lässt, entpuppt sich schließlich als Escape Room der Abteilung Chemie und Chemiedidaktik. Dr. Luzie Semmler zeigt hier ein etwas anderes Laborpraktikum für Allgemeinchemische Basisinhalte und erklärt Bianca Loschinsky, warum Kreativität in den Chemieunterricht gehört.

Dr. Luzie Semmler im Escape Room der Abteilung Chemie und Chemiedidaktik. Bildnachweis: Markus Hörster/TU Braunschweig

Die Geschichte: Die Professorin für Chemie, Prof. Dr. K. Tastrophe, wurde aus ihrem Labor entführt und auch von ihrem Assistenten fehlt jede Spur. Der Fall kann nur mit den Daten auf dem Laptop der Professorin aufgeklärt werden. Dieser ist jedoch mit einem Selbstzerstörungsmodus versehen. Um ihn zu deaktivieren, hat sich die Professorin etwas Besonderes einfallen lassen: Jeder, der Zugriff auf ihre Daten will, muss zuvor ein raffiniertes Sicherheitssystem in einem ihrer Labore überwinden und durch geschickte Kombination von Informationen das Passwort aufdecken. Die ermittelnden Einsatzkräfte sind dabei allerdings an ihre Grenzen gestoßen. Das Sicherheitssystem besteht aus chemischen Rätseln, die nur mit den entsprechenden Kenntnissen gelöst werden können.

Und jetzt kommen die Studierenden ins Spiel: Die Polizei ist auf ihre Hilfe angewiesen. Die Bachelor-Studierenden sollen das Sicherheitssystem überwinden und herausfinden, was mit der Professorin passiert ist. Dazu müssen sie in dem nicht ganz so ordentlichen Laborraum der Professorin einige Rätsel lösen, um das entscheidende Lösungswort zu entschlüsseln. Gefragt ist das Wissen aus dem Einführungsmodul Chemie und ihre Vermittlung. Damit hat Dr. Luzie Semmler einen Ort geschaffen, an dem die Studierenden mit einem spielerischen Ansatz chemische Kenntnisse anwenden und verschiedene Lösungen ausprobieren können.

Wir wollten deshalb von der Wissenschaftlerin wissen:

Ist der Escape Room auch etwas für den Chemieunterricht in der Schule?

Es gibt inzwischen verschiedene Escape Rooms, die für den Chemie-Unterricht gedacht sind. Das, was ich im Institut aufgebaut habe, ist für den Schulunterricht zu umfangreich. Unser Escape Room ist eher etwas für einen außerschulischen Lernort und hätte deshalb auch einen anderen Reiz als ein Labor in der Schule. Grundsätzlich kann man das Prinzip jedoch übernehmen und sicherlich auch einzelne unserer Rätsel. Es gibt auch Sets, die verschiedene Codes enthalten und Webseiten, die man nutzen kann. Hinzu kommt eine Box mit einem Schloss und schon hat man die Grundlagen, um einen kleinen Escape Room für Schüler*innen aufzubauen. Die meisten Escape Rooms sind auf eine Schulstunde, also 45 Minuten, ausgerichtet, in der die Schüler*innen Ideen entwickeln und experimentieren sollen. In der Regel wird vorher erworbenes Wissen angewandt. Nach einer Lehreinheit können die Lehrkräfte mit dem Escape Room eine spielerische Anwendung des Wissens und der Fähigkeiten einbauen. Es ist eine gute Methode, um auch leistungsschwächere Schüler*innen für die Themen zu begeistern und Interesse zu wecken.

Gibt es in deutschen Schulen genug Raum für Kreativität?

Die größte Hürde besteht durch den Zeitdruck im Unterricht, also, dass Lehrkräfte in einer bestimmten Zeit bestimmte Inhalte vermitteln müssen. In den Naturwissenschaften bauen viele Themen aufeinander auf und werden auch recht schnell komplex. Oftmals fehlt deshalb die Zeit, um Freiräume zu lassen, damit sich die Schüler*innen kreativ entfalten, eigene Ideen entwickeln können, diese ausprobieren und sich wirklich damit auseinandersetzen. Dafür muss man auch eine gewisse Umgebung und Atmosphäre schaffen.

Eine weitere Hürde, um Kreativität in den Regelunterricht zu integrieren, ist die Fokussierung auf Leistung und Output. Das wird ganz schnell bei den Schüler*innen, aber auch bei den Erstsemesterstudierenden bemerkbar. Schnell wird hier die Frage gestellt: Was muss ich denn jetzt für die Klausur lernen? Von diesem Denken müssen wir wegkommen, wenn wir Kreativität anregen und fördern möchten. Der Fokus sollte nicht auf das Produkt, die Klausur oder die Prüfung, sondern darauf ausgerichtet sein, wie der Prozess abläuft, denn da findet tatsächlich die Kreativität statt.

In AGs oder Lernwerkstätten findet bereits Kreativität statt. Aber dort werden natürlich nur ausgewählte Schüler*innen angesprochen. Und meistens eher die leistungsstärkeren, die oftmals sowieso schon Interesse an Naturwissenschaften haben. Die Ansätze dort sind gut. Nun müssen wir schauen, wie wir Teile davon in den Regelunterricht übernehmen können.

Ist man da in anderen Ländern bereits weiter?

Die skandinavischen Länder werden oftmals herangezogen, wenn es um fortschrittlichen Unterricht geht. Das Schulkonzept basiert unter anderem auf Projektarbeit. Das ist ein ganz anderes System, das sich natürlich nicht komplett auf unser Schulsystem in Deutschland übertragen lässt. Aber es gibt Schulen, die Ansätze davon ausprobieren und Erfolge damit erzielen.

Spannenderweise ist in der nächsten PISA-Erhebung kreatives Denken eine Kompetenz, die mit erhoben wird. Da bin ich sehr auf die Ergebnisse gespannt. Das Kriterium „Problemlösefähigkeiten“ aus der PISA-Studie kann man hier noch mit heranziehen, weil diese eng mit Kreativität in Verbindung stehen. Hier zeigte sich, dass die asiatischen Länder sehr weit vorn sind. In meiner Forschung habe ich viel Bezug zu Großbritannien genommen. Bereits 1999 hat dort ein extra von der Regierung in Auftrag gegebenes Komitee in einer Veröffentlichung formuliert, was Kreativität eigentlich ist und wie sie in der Schule integriert und umgesetzt werden kann.

Mittlerweile ist das Bewusstsein auch in Deutschland dafür da, dass Kreativität eine Schlüsselkompetenz ist, die auch in den MINT-Fächern gefördert werden muss. Da setze ich in meiner Forschung ganz stark an und versuche, Wege zu finden.

MINT-Fächer sind bei vielen Schüler*innen nicht die beliebtesten Fächer. Was können Lehrer*innen dagegen tun?

Dass die Fächer unbeliebt sind, hängt vor allem im Fach Chemie unter anderem damit zusammen, dass die Themen aufeinander aufbauen und schnell recht komplex werden. Wenn man am Anfang nicht mitkommt, wird es immer schwieriger. Deshalb ist es wichtig, das Interesse früh zu fördern, am besten schon im Kindergarten. Dort können mit Versuchen einfache naturwissenschaftliche Phänomene behandelt werden, zum Beispiel Zucker in Wasser zu lösen. Ich glaube, gerade die Experimente sind eine ganz große Stärke der naturwissenschaftlichen Fächer, um Interesse und Motivation zu wecken.

Wie können sie noch für den Unterricht begeistern?

Ganz wichtig ist auch, an der Lebenswelt der Schüler*innen anzuknüpfen. Das wird tatsächlich auch schon länger im Unterricht berücksichtigt: Alltagsphänomene, zu denen die Schüler*innen eine Verbindung aufbauen und Erfahrungen mit einbringen können. Außerdem sollten sie selbst einen Nutzen darin sehen, sonst ist es zu abstrakt und sie können es nicht einordnen.

Eine Methode ist das forschend-entdeckende Lernen. Dabei ist der Fokus auf einem naturwissenschaftlichen Phänomen, das den Schüler*innen präsentiert wird. Anschließend sollen sie eine Frage entwickeln und überlegen, wie sie diese Frage experimentell untersuchen können, um daraus Erkenntnisse zu ziehen und diesen Prozess auch zu reflektieren. Dann sind wir auch wieder bei Kreativität! Denn all das findet auch im kreativen Prozess statt. Diese Methode ist nicht neu, man muss sie nur anwenden und darauf achten, dass man alle Schüler*innen mitnimmt. Lernhilfen und Differenzierungsangebote sind wichtig, weil man leistungsschwächere Schüler*innen sonst auch schnell überfordern kann.

Dr. Luzie Semmler forscht zu Kreativität im Chemieunterricht. Bildnachweis: Markus Hörster/TU Braunschweig

Den Chemie-Unterricht verbindet man nicht unbedingt mit Kreativität.  Warum ist sie in diesem Fach dennoch notwendig?

Kreativität hat eine fachübergreifende Bedeutung. Die globalen Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen – Klimawandel, erneuerbare Energien – sind naturwissenschaftliche Herausforderungen. Und diese brauchen kreative und innovative Herangehensweisen. Es muss Menschen geben, die Lösungswege entwickeln, die wir noch nicht gegangen sind, die man ausprobiert und schaut, ob es zum erhofften Ergebnis führt. Das ist etwas, das in allen Naturwissenschaften in der Schule gelehrt werden sollte. Auch hinter technischen und medizinischen Neuerungen stecken wissenschaftliche Prozesse.

In den Naturwissenschaften gibt es den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Das ist genau das, was ich bereits beschrieben habe: ein Problem finden, dazu Hypothesen formulieren und überlegen, wie man das Experiment angeht, plant, durchführt, auswertet und am Ende präsentiert und reflektiert. Genau das muss man auch in der Schule machen, um bei den Schüler*innen Wissen und Fähigkeiten zu generieren, die sie auch auf solche neuen Situationen anwenden können.

Diese Prozesse benötigt man übrigens auch im Alltag. Ein einfaches Beispiel: Das Fahrrad rostet. Was mache ich, um den Rost vom Rad zu entfernen und wie verhindere ich, dass das Fahrrad danach wieder rostet? Das sind naturwissenschaftliche Phänomene und Probleme, vor denen auch jeder Jugendliche steht, die man im Unterricht gut vermitteln kann.

Dieses Beispiel kann ich noch fortsetzen. Mein Rad hat unterwegs einen Platten. Ich habe aber kein Werkzeug dabei. Wie repariere ich den Reifen? Die Fähigkeit, das Wissen auf die neue Situation zu übertragen, muss gelernt und geübt werden. Das braucht man für alle naturwissenschaftlichen Herausforderungen, die uns im Leben begegnen.

Wie sollte der Unterricht der Zukunft gestaltet sein?

Ich glaube, wir müssen komplett umdenken. Unsere heutigen Strukturen im Schulsystem hatten wir bereits vor 100 Jahren. Die Schule muss also deutlich offener werden und an individuellen Fähigkeiten und Voraussetzungen der Schüler*innen anknüpfen und da möglichst viele Wege zulassen. Dieses Umdenken hat auch viel mit der Rolle der Lehrkraft zu tun. Man ist nicht mehr nur Wissensvermittler*in. Der Fokus muss darauf liegen, wie man mit den Informationen umgeht und wie man das Wissen anwendet und auf neue Situationen überträgt. Es geht nicht darum, am Schluss eine möglichst gute Arbeit zu schreiben, sondern es sollte geschaut werden, wie der Lernprozess bei den Schüler*innen abläuft.

Dazu sollte die Struktur des Fachunterrichts aufgebrochen werden. In den Gesamtschulen hat man das mit dem naturwissenschaftlichen Unterricht bereits umgesetzt. Und den Schüler*innen sollte mehr Eigenverantwortung gegeben werden und man sollte sie selbstständiger arbeiten lassen. Wir könnten noch ein Stück weitergehen und die Kerncurricula umstrukturieren. In meiner Vorstellung benötigen wir ein komplettes Umdenken im gesamten Schulsystem, um diese ganzen Kompetenzen, die in Zukunft wichtig werden, angemessen zu fördern. Das ist ja nicht nur Kreativität, das ist auch die Vorbereitung auf die digitalisierte Welt.

Was hat bei Ihnen selbst das Interesse an der Chemie geweckt?

Das kam tatsächlich erst sehr spät. Ich mochte das Fach Chemie immer und war auch keine schlechte Schülerin. In der Oberstufe hat mich die Lehrkraft so gefördert, dass ich den Eindruck hatte, das Fach ganz gut zu können. Für mich stand dann irgendwann fest, dass ich Lehramt studieren möchte, aber nicht, welche Fächer. Deutsch war für mich immer klar. Bei dem Zweitfach war ich mir unsicher. Mein Chemielehrer hat mir das zugetraut und mich positiv bestärkt. So richtig stark geweckt wurde mein Interesse jedoch tatsächlich erst zum Ende meines Studiums, als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte zu promovieren. Da hatte man mich mit dem Thema „Kreativität“ gepackt!