Nachts in… den Zeichensälen Mit Architektur-Studierenden zwischen Styropor, Pappe und Computern
Was haben die Begriffe „Belvedere“, „Humboldt Exil“ und „Oman“ gemeinsam? Es sind die Namen von Zeichensälen am Hauptcampus der Technischen Universität Braunschweig. In unserer Reihe „Nachts in…“ besuchen wir unterschiedliche Einrichtungen und Gebäude der Universität zu ungewöhnlichen Zeiten. Ich bin Volontärin in der Presse und Kommunikation und war in einigen der insgesamt 16 Zeichensäle, um mich auf die Suche nach Studierenden zu begeben, die die Nacht zum Tag machen.
Es dämmert langsam, als ich das Altgebäude betrete und mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock fahre. Während ich auf den Flur trete, sehe ich schon Antonia Lüttig. Sie ist vor der Hitze der letzten Wochen auf den Korridor geflüchtet und hat die Fenster weit geöffnet. Die Architektur-Studentin zeigt mir den Zeichensaal „Belvedere“. Der Name ist italienisch und bedeutet so viel wie „schöne Aussicht“. Tatsächlich hat der hohe Raum aber nur Deckenfenster. Beim Eintreten lacht Antonia und schaut nach oben: „Vielleicht ist der Name ironisch gemeint!“ Im Zeichensaal herrscht kreatives Chaos: Die Regale sind voll mit Materialien, auf den Tischen stapeln sich Pläne und Modelle neben Computern, Büchern und Kaffeetassen.
Antonia erzählt mir, dass sogar am Wochenende in den Zeichensälen sehr viel los ist. Sie arbeitet gerade an ihrer Bachelorarbeit, einem „Co-Living Projekt“ am Nordcampus: „Im Moment verbringe ich fast 80 Prozent meiner Zeit im Zeichensaal und gehe eigentlich nur zum Schlafen nach Hause. Aber ich arbeite gerne hier, weil es weniger Ablenkungen gibt.“ Die kleine Küche mit Sofaecke im Nachbarzeichensaal „Lehmbruck“ wird gemeinsam genutzt. „Es ist ein bisschen wie in einer WG. Man verbringt viel Zeit zusammen und muss aufeinander Rücksicht nehmen. Das klappt aber super!“
Wir setzen uns in die Küche zu ein paar anderen Studierenden. Sie erzählen mir, dass in den Zeichensälen eine entspannte Atmosphäre herrscht, zwischendurch wird Musik gehört oder auch mal getanzt. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus, manche arbeiten eher tagsüber, andere bis tief in die Nacht. Warum nachts arbeiten? Aus pragmatischen Gründen: weil die Zeit knapp ist und Abgaben bevorstehen. Kirsten Remmers sitzt mir gegenüber und strahlt mich an. Sie hatte heute die Planabgabe für ihre Bachelorarbeit und deshalb die vergangene Nacht durchgemacht. „Nachts ist es hier ruhiger und trotzdem ist es schön, dass man nicht ganz alleine ist.“ Eine Erfahrung, über die auch Zeichensaalsprecherin Henriette Weber erzählen kann: „Wir haben schon zu fünft an einem Modell gearbeitet und gemeinsam die Nacht durchgemacht.“
Viel Platz zum Arbeiten
Als ich mich den Grotrian-Gebäuden nähere, höre ich Musik und lachende Stimmen aus den offenen Fenstern. Vier Zeichensäle gibt es hier, mit Platz für insgesamt rund 90 Studierende. Im „Grotrian 1“ treffe ich Firat Ertegi. Er studiert im fünften Mastersemester Architektur und arbeitet gerade an einem digitalen Entwurf für seine Masterarbeit zum Thema „Hyperloops“. Seit seinem Bachelorstudium hat er einen Platz im Zeichensaal, erst im Architektur-Tower, jetzt im Grotrian. Wir setzen uns an seinen Schreibtisch, der Ventilator spendet etwas kühle Luft. Firat erzählt mir, warum die Zeichensäle für Architektur-Studierende so wichtig sind: „Wir entwerfen im Laufe unseres Studiums viele Modelle. Dafür brauchen wir jede Menge Platz – die Modelle können auch schon mal Größen von über einem Quadratmeter annehmen. Gleichzeitig benötigen wir aber auch eine Umgebung, in der Nachtarbeit und auch Lärm durch bohren, hämmern, sägen oder fräsen nicht stören.“
Aber nicht nur der Platz ist ein Vorteil, sondern auch die sozialen Kontakte. „In den Zeichensälen arbeiten Studierende aus verschiedenen Semestern zusammen und lernen voneinander“, fasst Firat zusammen. „Ob man Fragen zur Software oder zu Arbeitsmethoden hat – man findet hier immer jemanden, der eine Antwort hat. Gerade dieser Austausch und die Diskussion über Entwürfe tragen dazu bei, dass am Ende gute Modelle entstehen.“
Leben und arbeiten in der Zeichensaalfamilie
Den wohl höchst gelegensten Arbeitsplatz haben die Studierenden der beiden Zeichensäle im Architektur-Tower. Dort haben mich Janek Meyer und Lucius Ladleif durch die Räume im siebten Stock geführt. In einem Großraumbüro und mehreren kleineren Büros haben insgesamt ungefähr 40 Personen Platz. Eine Küche und einen kleinen Aufenthaltsraum mit Blick über Braunschweig gibt es auch. „Das hier ist ein bisschen wie das eigene Wohnzimmer. Man sitzt mit Leuten zusammen, tauscht sich aus, lacht und isst gemeinsam. Wir sind schon eine kleine Zeichensaalfamilie“, beschreibt Janek das Leben und Arbeiten hoch oben im Tower.
Die beiden Masterstudierenden sind sich einig, dass der Zeichensaal ein Ort des Austausches ist, an dem man viel voneinander lernt. Lucius ergänzt: „Durch die Diskussionen mit anderen erhält man sehr viel Input und betrachtet Entwürfe plötzlich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.“ Die Beiden haben schon öfter nachts in den Zeichensälen gearbeitet. „Dann ist es ruhiger und man arbeitet fokussierter“, sagt Lucius. Janek stimmt zu – er hat hier schon bis vier Uhr morgens an Projekten gesessen. „Die Atmosphäre ist dann ganz anders. Tagsüber ist „Socializing“ angesagt: Man unterhält sich mit den anderen Studierenden, geht zusammen in die Mensa, unternimmt etwas. Nachts ist man produktiver.“
Produktivität zwischen Styropor, Pappe und Computern
Auch bei meinem nächtlichen Besuch im Amtsgericht begegnen mir Studierende bei der Arbeit. Pläne hängen an den Wänden, Zeichenmaterialien liegen auf den Schreibtischen. In einem Regal in der Küche stapeln sich fertige Modelle bis zur Decke. Vor allem zum Ende des Semesters und vor großen Abgaben wird es nachts voll in den Büros, wird mir hier gesagt. Ich kann mir vorstellen, wie dann zwischen Styropor, Pappe und Computern Hochbetrieb herrscht.
Während meiner Besuche in den Zeichensälen habe ich viele nette Studierende getroffen und einiges gelernt. Nachts ist dort mehr los, als ich erwartet hatte. Und: So mancher Architektur-Studierende verbringt mehr Zeit im Zeichensaal als Zuhause. Kein Wunder also, dass ich oft gehört habe, der Kühlschrank hier wäre besser gefüllt als der in der eigenen Wohnung. Aber – und darin waren sich alle einig, mit denen ich gesprochen habe: Das Arbeiten im Zeichensaal macht jede Menge Spaß.