Mehr Wirksamkeit, weniger Nebenwirkungen Auf dem Weg zur individualisierten Medizin
In der individualisierten Medizin sehen Politik und Forschung einen wesentlichen Baustein für das Gesundheitssystem der Zukunft. Es geht dabei um Wirksamkeit, aber auch um Effizienz, neue Technologien und um Datenschutz. Wie weit sind wir damit? Woran forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Braunschweig? Wir haben dazu mit Professor Arno Kwade, der gerade für seine Forschung im Bereich der Partikeltechnik und ihre Bedeutung für die Medizin mit dem Wissenschaftspreis Niedersachsen ausgezeichnet wurde, und Dr. Jan Henrik Finke, der als promovierter Pharmazeut an Professor Kwades Institut für Partikeltechnik den Bereich Pharma- und Biopartikeltechnik leitet, gesprochen.
Die Bundesregierung hat das Thema unter dem Oberbegriff der Personalisierten Medizin in ihrem Rahmenprogramm zur Gesundheitsforschung auf die Agenda gesetzt: „Das Ziel der Systemmedizin ist (…) nicht nur, Krankheitsmechanismen besser zu verstehen, sondern daraus auch individuelle Vorbeugungs- und Behandlungsmöglichkeiten abzuleiten – als Wegbereiter für die personalisierte Medizin.“ Zugrunde gelegt werden hier die individuellen Lebensweisen und Bedürfnisse des Menschen, aber auch die Erkenntnis, dass jede Erkrankung abhängig von vielen, von Organismus zu Organismus unterschiedlichen Prozessen und Einflussfaktoren ist. Demnach ist, zum Beispiel, ein bestimmtes Medikament oder eine bestimmte Therapie zur Behandlung einer Krankheit nicht immer für alle unter derselben Krankheit leidenden Menschen gleichermaßen die beste die Lösung. Auch ist nicht immer klar, wie wirksam eine Therapie ist und welche Neben- und Wechselwirkungen auftreten können. Die Aussicht auf eine höhere Effizienz im Gesundheitssystem, mehr Sicherheit und mehr Lebensqualität für Patient*innen machen die Erforschung neuer Behandlungsansätze relevant.
Auf einzelne Patient*innen ausgerichtet
„Wir sprechen hier eher von individualisierter Medizin, da sie wirklich die auf eine einzelne Person zugeschnittene Therapie verfolgt, während bei der personalisierten Medizin Therapien für Patientengruppen (mit gemeinsamen Eigenschaften) adressiert sind“, konkretisiert Professor Arno Kwade.
Um diese Therapieentscheidung zu treffen, werden Faktoren wie Geschlecht, Vorerkrankungen, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, Unverträglichkeiten, genetische Merkmale, Umwelteinflüsse berücksichtigt. „Jede Patientin und jeder Patient bekommt dann zu jedem Zeitpunkt genau die Therapie und insbesondere die Dosis und Kombination von Arzneistoffen, die aufgrund des individuellen Krankheitsbildes und der jeweiligen Konstitution genau benötigt werden“, sagt Dr. Jan Henrik Finke. Die Therapie werde somit auf die Patient*innen zentriert. Damit verbunden ist auch eine patient*innenfreundliche Einnahme von Arzneiformen. „Dadurch folgen diese der Therapie treuer und erhalten so das individuell beste gesundheitliche Ergebnis.“
In der individualisierten Medizin geht es jedoch nicht nur um die Behandlung von Krankheiten. Ziel ist auch, herauszufinden, ob der Organismus eine Veranlagung für bestimmte Krankheiten hat. Ist das bekannt, kann entsprechend rechtzeitig das Erkrankungsrisiko reduziert oder hinausgezögert werden. Kurz: Individualisierte Medizin soll dabei helfen, Erkrankungen von Einzelnen besser zu verstehen, vorherzusagen, zu behandeln und zu vermeiden.
Bei welchen Erkrankungen könnte der Einsatz der individualisierten Medizin eine wichtige Rolle spielen?
„Zum Beispiel bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck, aber auch bei Krebs. Grundsätzlich dort, wo in der Regel mit einer Kombination von Wirkstoffen gearbeitet werden muss und wo die Dosen auf die Konstitution und die erbliche Anlage der Patient*innen abgestimmt werden müssen“, sagt Dr. Finke.
Bereits heute werden in der Krebstherapie die Auswahl der Wirkstoffe, deren Dosis und deren Verabreichung individuell für einzelne Patient*innen zusammengestellt.
Anpassung der Arzneimittelproduktion
Damit dieser patient*innenindividuelle Ansatz gelingen kann, arbeiten Forscherinnen und Forscher am Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik (PVZ) der TU Braunschweig an miniaturisierten Wirkstoff- und Arzneimittelproduktionsanlagen. Denn für die individualisierte Therapie bedarf es komplett neuer Konzepte für Herstellungsanlagen, da man dieser Herausforderung nicht mit den auf die industrielle Massenproduktion zugeschnittenen Anlagen gerecht werden kann. Hierzu müssen hochpräzise und dabei auch hochflexible Anlagen neu entwickelt werden. Wie die praktische Versorgung aussieht, beschreibt Professor Kwade so: „Der Arzt verschreibt der Patientin oder dem Patienten eine Auswahl von Wirkstoffen und deren Dosis. Die Daten hierzu werden der betreffenden Apotheke digital übermittelt, die mit speziellen Automaten – zum Beispiel 3D-Druckern für Tabletten oder Kapselfüllautomaten – die individualisierten Arzneimittel in der gewünschten Stückzahl herstellt. Idealerweise werden diese dann in ein intelligentes Verpackungsmittel integriert, die die sichere Einnahme der Dosen zu den richtigen Zeitpunkten sicherstellt.“
Herausforderungen in der Forschung
Der Paradigmenwechsel in der Patientenversorgung stellt die Forschung vor große Herausforderungen. Für den Einsatz der individualisierten Medizin müssen kleine Mengen von Arzneimitteln wirtschaftlich hergestellt werden können. Dabei muss gewährleistet sein, dass die Dosierung der richtigen Wirk- und Hilfsstoffe präzise, sicher und nachverfolgbar stattfindet. Von besonderer Bedeutung sind Wechselwirkungen zwischen Wirkstoffen. Sind diese bekannt, können auch neu gefundene Wirkstoffe direkt integriert werden. Im Gegensatz zur Massenproduktion können Stichproben einer Fertigungscharge nicht zerstörend auf ihre Qualität untersucht werden – dies ist bei Stückzahlen nahe eins unwirtschaftlich.
„Stattdessen muss der Bedarf adressiert werden, neue, zerstörungsfreie analytische Methoden inklusive ihrer digitalen Auswertungsalgorithmen zu etablieren, um die Sicherheit der hergestellten individuellen Medikamente sicherzustellen“, so Dr. Finke.
An der TU Braunschweig wird dazu noch in vielen anderen Bereichen geforscht – zusammen mit universitären Partnern und den beiden Fraunhofer-Instituten für Schicht- und Oberflächentechnik (IST) und für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM), gemeinsam im Fraunhofer Leistungszentrum Medizin und Pharmatechnologie, sowie dem Apothekenverbund Auriga.
In der Pharmakologie der TU Braunschweig wird beispielsweise die Wirkung von Wirkstoffkombinationen beschrieben und in der pharmazeutischen Technologie und Biopharmazie Zwischenprodukte (Intermediate) mit Wirk- und Hilfsstoffen entwickelt. Am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF) beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Apparate- und Automatisierungskonzepten für die Fertigung und die Abbildung der Herstellung als digitaler Zwilling. Ein digitaler Zwilling sagt die Produkteigenschaften auf Basis der Produktionshistorie des individuellen Arzneimittels voraus und kann so zukünftig zur Qualitätssicherung wie auch zur Prozesssteuerung eingesetzt werden.
Daten und Wirtschaftlichkeit als Grundlage
Grundlage für eine individualisierte Medizin sind Daten, also zum Beispiel Informationen über den Gesundheitszustand und den Lebensstil (Ernährung, Sport, Rauchen, Alkohol). Aus diesen Daten lassen sich neue diagnostische Verfahren und Behandlungsmethoden ableiten. Vor Therapiebeginn könnte dann maßgeschneidert eine Behandlungsstrategie angeboten werden.
Hierbei ist nach Ansicht von Professor Kwade wichtig, dass die Sicherheit der persönlichen Daten an erster Stelle steht. Auch die wirtschaftliche Seite sei bei der Erforschung der individuellen Medizin von enormer Bedeutung: zum einen, was die Herstellung der individualisierten Arzneimittel betrifft, die über einen hohen Automatisierungsgrad verfügt – vergleichbar mit der Handhabung eines Kaffeeautomaten; zum anderen müssen schon früh unterschiedlichste Interessenträger in den Entwicklungsprozess eingebunden werden, sodass Patient*innen, Mediziner*innen, Apotheker*innen, Arzneimittelhersteller*innen, aber auch die Kostenträger (Krankenkassen) für die Finanzierung der innovativen Therapien offen sind.