Mauern haben lange Schatten Alumni Thomas Willemeit, Lars Krückeberg und Wolfram Putz von GRAFT kuratieren Deutschen Pavillon auf Architekturbiennale gemeinsam mit Marianne Birthler
28 Jahre – so lange hat die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland existiert. Und genauso lange ist sie bereits weg. Diese Zeitengleiche ist Anlass für die Ausstellung „Unbuilding Walls“, die ab dem 26. Mai im Deutschen Pavillon auf der 16. Architekturbiennale in Venedig gezeigt wird. Kuratiert wird die Schau von der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler und den Architekten Thomas Willemeit, Lars Krückeberg und Wolfram Putz vom Büro GRAFT – alle drei Alumni der TU Braunschweig. Wir haben mit den GRAFT-Gründern über Studieren im geteilten Deutschland, Grenzen und Mauern sowie über ihre Pläne für den Deutschen Pavillon gesprochen.
Herr Willemeit, Herr Krückeberg, Herr Putz, Sie haben Ende der 1980er mit dem Architekturstudium an der TU Braunschweig begonnen, als Deutschland noch durch eine Mauer geteilt war. Wie haben Sie selbst diese Grenze erlebt?
Thomas Willemeit: Wir haben eine starke Erinnerung daran. Ein großer Teil meiner Verwandtschaft lebte in Ostberlin. Dadurch habe ich die Kontrollen, das Fahren über die Transitstrecke und die Realität in Ostberlin noch ziemlich lebhaft vor Augen. Das ist dann ganz klar der Hintergrund, wenn man in Braunschweig – im damaligen Zonenrandgebiet – studiert hat. Die Mauer war Realität und das Land dahinter eine Nicht-Realität. Man konnte ja nicht einfach rüber.
Ich kann mich gut erinnern, dass uns ein Städtebau-Professor erzählte, dass das Hochhaus, die „Scheibe“ am Braunschweiger Bahnhof, die parallel zu den Gleisen steht, ganz klar ausdrücken soll, dass Braunschweig kein Kopfbahnhof sein soll. Vor dem Zonenrand sollte es also keine Endhaltestelle geben, sondern einen Durchgangsbahnhof.
Was bedeutete der Mauerfall für Sie?
Thomas Willemeit: Er hat vieles im Leben umgekrempelt. Also nicht nur, dass die Stadt zwei Tage später voller Trabis war. Der Radius erweiterte sich ja plötzlich um 180 Grad. Dann kamen schnell die Ausflüge in den Ostharz und das Wiederentdecken der kleinen Städtchen, dieser Kulturschätze auf der anderen Seite. Aber auch ständige Fahrten nach Berlin. Kulturbauten, Berlin, Leipzig, Dresden, Ostseeküste, der Umgang mit den Braunkohlebauen – das wurde plötzlich Alltag.
Wolfram Putz: Wir studierten zu einer Zeit, in der Wettbewerbe noch gang und gäbe waren – dafür wurde man in Braunschweig ausgebildet. Man spürte die Welle der vielen öffentlichen Bauaufgaben kommen und setzte sich damit auseinander, wie ein ganzes Land aufzubauen ist. Unsere Assistenten, die in dieser Zeit ihr Diplom machten, sind fast alle geschlossen nach Berlin gezogen und haben dort ihre Büros gegründet.
Hatte die Grenzöffnung Auswirkungen auf Ihre spätere Arbeit als Architekten?
Lars Krückeberg: Ich glaube, dem konnte sich keiner entziehen. Neben der Tatsache, dass unglaublich viel zu tun war für Architekten Anfang der 1990er Jahre. Als wir dann in die Arbeitswelt gingen 1996/1997, da fing allerdings schon das Bürosterben in Berlin an. Wir haben schließlich einen ganz anderen Weg gewählt und sind ganz weit in den Westen gegangen nach Los Angeles, haben dort 1998 GRAFT gegründet. Als wir uns entschieden haben, 2001 nach Europa zurückzukommen, war Berlin für uns die interessanteste Stadt. Es ist vielleicht die zugänglichste Stadt Europas. Und das macht sie so lebenswert und so spannend. Ohne den Mauerfall wäre das so nie passiert. Berlin war immer eine Stadt der Brüche und der Neuanfänge, der Glücksritter. Wir haben das Gefühl, dass in Berlin durchaus Los Angeles wie auch Peking, wo wir auch ein Büro gegründet haben, Platz haben.
In diesem Jahr ist Deutschland so lange vereint, wie die Mauer bestand – nämlich 28 Jahre. In Ihrer Ausstellung im Deutschen Pavillon der Architekturbiennale beziehen Sie sich auf diese Zeitengleiche. Welche Rolle spielt dieses Datum in Bezug auf die Architektur?
Lars Krückeberg: Diese Zeitengleiche ist der Anlass unserer Ausstellung. Wir haben uns viel mit dem Checkpoint Charlie beschäftigt, weil wir dort bauen. Irgendwann ist uns dieses Spiegeldatum aufgefallen. Das war der Anstoß zu fragen: Was passiert mit einem Todesstreifen, der zu einem Lebensraum werden soll? Gibt es dafür einen Plan? Gibt es viele Pläne? Und was ist eigentlich passiert, vor allem in Berlin, aber auch an der innerdeutschen Grenze? Architektonisch gibt es die vielfältigsten Bedürfnisse, Sehnsüchte, Strategien wie auch Dogmen, wie man mit diesem Raum umzugehen hat. Mit welchen Mitteln man Heilung versucht, wie man erinnert oder eben nicht.
Wolfram Putz: Wir denken, dass es spannend ist, in einer Ausstellung diese unterschiedlichen Haltungen zu dokumentieren, um davon zu lernen. Städtebaulich wie auch gesellschaftspolitisch kann man lernen, dass Mauern, auch wenn sie verschwinden, sehr lange Schatten werfen. 28 Jahre reichen offensichtlich nicht aus, um die Städte oder auch das gesamte Land komplett zu vernähen oder die Wunden zu heilen bzw. um die Mauern, die in den Köpfen existieren, abzubauen. Es sind sehr langwierige Prozesse.
Die Schau heißt „Unbuilding Walls“. Was genau versteckt sich hinter dem Begriff „unbuilding“?
Thomas Willemeit: Den Begriff „unbuilding“ gibt es im Englischen eigentlich nicht. Uns geht es um den Prozess des Abbauens. Wir benutzen die Metapher des Raums, der zwischen den beiden Mauern bestand, auch als Ausdruck einer Zeitspanne, einer Zwischenphase oder eines gedanklichen Raumes, der betreten werden und mit dem man sich auseinandersetzen muss. Und dieser Raum hat viele Facetten: zum Beispiel Erinnerungen, abzubauender Schmerz, heilende Wunden. Er hat aber auch unfassbare Potenziale, die zynischerweise nur durch diese Kriegszerstörungen und die Teilung entstanden sind.
Wolfram Putz: Gleichzeitig ist es auch eine architektonische Betrachtung. Die Erkenntnis, dass dieser Raum nicht einfach nur zugebaut werden muss, um zu vergessen, dass auch die entstandene Leere als eine neue Mitte verbindende Funktion haben kann. In Form der Gedenkstätten, die entstanden sind oder der großen Parks, in denen Berlin heute, wie im Mauerpark, ja immer noch zu feiern scheint, dass die Trennung überwunden ist. Also wir versuchen den ganzen Bogen zu spannen – von einer gedanklich-philosophischen Betrachtung einerseits bis hin zu einer klassisch-architektonischen Ausstellung.
Lars Krückeberg: Die Ausstellung heißt ja „Unbuildung Walls – From Death Strip to Freespace“. Dass dieser Raum, dieser Freiraum, gedanklich, aber auch physisch und haptisch, plötzlich da war, führte nach 28 Jahren wahrscheinlich zu dem größten Identifikationsfaktor der Stadt Berlin und zu ihrem großen Erfolg. Die Weltjugend hat sich hier versammelt, weil es diesen freien Raum gab und die Jugend ihn sich genommen hat. Er wurde zum Spielplatz vieler Sehnsüchte. Viele junge Leute wollen auch erspüren, was diese Teilung der Welt war. Deswegen ist die East Side Gallery kulturhistorisch bedeutsam und möglicherweise das meistfotografierte Bauwerk Berlins. Es ist eben nicht das Brandenburger Tor und nicht der Fernsehturm, sondern diese Wand. Das ist das eigentlich Spannende für uns als deutsche Architekten und Berliner Bürger: zu untersuchen, was diese Potenziale noch heute bedeuten. Der Prozess ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Wir zeigen auch sehr stark, was alles nicht funktioniert hat oder noch nicht zusammengekommen ist. Davon zu lernen in einer Zeit, in der weltweit wieder Mauern gebaut werden, ist durchaus spannend.
Neben der deutschen Mauer-Erfahrung geht es in „Unbuilding Walls“ auch um aktuelle Barrieren, Zäune und Mauern. Welche Orte haben Sie dafür ausgewählt?
Thomas Willemeit: Das sind die sechs wahrscheinlich bekanntesten, auf die wir kurz ein Schlaglicht werfen: die Grenzen zwischen Mexiko und den USA sowie zwischen Nord- und Südkorea, die von der UN eingerichtete Zone auf Zypern zwischen dem türkischen und dem griechischen Teil der Insel. Außerdem die West Bank Barrier, die die Palästinenser-Gebiete von Israel abgrenzen soll. Und natürlich geht es auch um die EU-Außengrenzen. Der Vereinigungsprozess in Deutschland und auch der EU-Erweiterungsprozess haben ja zu der Frage geführt: Wo ist der europäische Raum, und wie verhält er sich zu seinem gesamten Umfeld, wo grenzt er sich ab oder wo ist ein extremes Spannungsfeld zu spüren? Deshalb gucken wir nach Ceuta und Melilla in Marokko, den spanischen Enklaven, die sich eingemauert haben und nach Irland, wo ja im Zuge der Brexit-Verhandlungen die zukünftige EU-Außengrenze, die über die irische Insel verläuft, die Absurdität des Ganzen am stärksten widerspiegelt.
Es ist ganz wichtig, dass man diese Grenzen nicht nur als ein räumliches Trennungsphänomen begreift, sondern betrachtet, wie Gesellschaften sich zueinander verhalten, wie sie miteinander umgehen, wie sie von ungehindertem Austausch – Reise- oder Warenverkehr – profitieren und wie absolut entscheidend diese Balance zwischen eigener Identität und Offenheit über die eigenen Landesgrenzen hinweg am Ende ist.
Wolfram Putz: Wir schauen nicht wertend auf diese internationalen Mauern, weil die Lebensrealität der Menschen, die in deren Nähe wohnen, deren Familien getrennt sind, sehr vergleichbar ist mit jener Lebensrealität, die in Deutschland existierte. Der Traum des Normalbürgers ist mit Sicherheit sehr vergleichbar zu dem Traum, der am Ende auch die Mauer in Deutschland zu Fall brachte.
Die Schau entwickeln Sie gemeinsam mit der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler. Wie sieht diese Zusammenarbeit aus?
Thomas Willemeit: Wir kuratieren die Ausstellung gemeinsam, also zu viert. Natürlich respektiert Marianne Birthler zum Teil unsere gestalterischen Thesen und ist darauf neugierig. Genauso wie wir mit großen Augen und Ohren verfolgen, wenn sie uns vermittelt, wie wichtig Worte und präzise Formulierungen in Bezug auf die deutsche Teilung und Wiedervereinigung sind. Wie wichtig auch immer das Abwägen zwischen einer wissenschaftlichen Betrachtung, einer nüchternen, neutralen Sicht auf die Dinge und dem Ernstnehmen der Realitäten der Menschen ist, die sich abgehängt fühlen oder die unter dem Eindruck stehen, nach der Wiedervereinigung hätte sich in ihrem Leben eigentlich gar nichts verbessert.
Lars Krückeberg: Es ist wichtig, dass eine Ausstellung in dieser Komplexität, auch wenn es die Architekturbiennale ist, gesellschaftspolitisch eingebunden ist. Es ist gut, dass Architekten diese Ausstellung kuratieren, aber es ist unumgänglich, dass eine Politikerin dabei ist, die sich mit gesellschaftlichen Prozessen beschäftigt. Daneben war es uns wichtig, da wir alle drei westlich aufgewachsene Männer sind, jemanden dabei zu haben, der die Perspektive aus dem Osten einnehmen kann. Dass Marianne Birthler eine Frau ist, ist vielleicht auch ein Vorteil. Es braucht einen ausgewogenen Blick auf die Dinge.
Was genau werden Sie im Deutschen Pavillon zeigen, wenn die Biennale am 26. Mai in Venedig eröffnet?
Thomas Willemeit: Das werden wir jetzt natürlich nicht verraten.
Lars Krückeberg: Wir erzählen jedenfalls nicht genau, was die Besucherinnen und Besucher erwartet. Wir versprechen einen emotionalen Zugang zu dem Thema durch eine Rauminszenierung. Was wir vor allem zeigen, sind Architektur- und Städtebauprojekte, landschaftsplanerische Projekte, aber auch Ausgelöschtes: Orte, die durch die Teilung einfach verschwunden sind, so genannte Wüstungen. Wir dokumentieren die Vielfalt des Umgangs mit der Teilung nach dem Mauerfall. Gleichzeitig zeigen wir – wahrscheinlich in Form von Diagrammen und Statistiken – wo die Einheit schon sehr gut funktioniert hat und wo man immer noch sehr stark die Grenzen zwischen Ost und West ablesen kann. Und wir lassen in einer Installation Menschen, die direkt von Mauern in den sechs von uns ausgewählten Regionen betroffen sind, an ihrem Ort zu Wort kommen. Dabei wollen wird das Für und das Wider dieser Stimmen darstellen, so dass sich Menschen nicht nur ein Bild machen können, sondern aufgefordert sind, eine eigene Haltung einzunehmen oder zu entwickeln. Denn ist eine Mauer erst einmal gebaut, hat man ein Erbe, mit dem man gesellschaftlich sehr lange zu tun hat.