KI in der inklusiven Arbeitswelt Prof. Jochen Steil über den Einsatz Künstlicher Intelligenz für mehr Teilhabe am Arbeitsleben
Fast acht Millionen Menschen in Deutschland, Stand 2020, leben mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, ein Drittel davon im erwerbsfähigen Alter. Wie Künstliche Intelligenz (KI) diese Menschen bei der Integration in die Arbeitswelt unterstützen kann, beleuchtet die Publikation „Mit KI zu mehr Teilhabe in der Arbeitswelt” der Plattform Lernende Systeme. Wir sprechen mit Professor Jochen Steil, Leiter des Instituts für Robotik und Prozessinformatik der TU Braunschweig und Erstautor der Veröffentlichung, über Potenziale und Einsatzmöglichkeiten von KI-Technologien sowie über Herausforderungen, die sich bei der Gestaltung einer inklusiven Arbeitswelt ergeben.
Welchen Beitrag kann KI in einer inklusiven Arbeitswelt leisten?
KI-Technologien können die Arbeitswelt barrierefreier und inklusiver gestalten. So können beispielsweise bereits heute Robotik und Exoskelette, eine Art Stützkorsett, Menschen mit Beeinträchtigungen bei körperlich anspruchsvollen Aufgaben unterstützen. KI kann auch die Kommunikation barrierefrei gestalten, indem sie komplexe Texte in Leichte Sprache umwandelt und so Informationen für alle zugänglich macht. Oder sie übersetzt Gebärdensprache in Echtzeit in Text oder Sprache. So können hörende und gehörlose Menschen leichter miteinander kommunizieren. Voraussetzung ist, dass die Systeme auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten werden, um ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu erleichtern oder sie zu neuen Arbeitstätigkeiten zu befähigen.
Was sind die notwendigen Bedingungen für die Entwicklung und Nutzung von KI-Anwendungen in einer inklusiven Arbeitswelt?
Um die individuellen Kompetenzen dieser Menschen durch KI-Technologien zu erweitern oder zu stärken, ist es unerlässlich, sie aktiv an der Entwicklung und inklusiven Gestaltung der Systeme zu beteiligen. Für möglichst passgenaue Technologien müssen wir die relevanten Zielgruppen im Blick behalten und Menschen mit Beeinträchtigungen möglichst früh in den Entwicklungsprozess integrieren.
Wie können KI-Systeme so gestaltet werden, dass sie die Anforderungen von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen berücksichtigen?
Adaptive Lern- und Assistenzsysteme, die sich dynamisch an unterschiedliche individuelle und situative Bedürfnisse anpassen können, sind eine vielversprechende Lösung. Allerdings kann diese Anpassung nicht ausschließlich datengetrieben erfolgen, da die spezifischen Bedürfnisse selten allgemeinen Mustern folgen und ausreichende Datenmengen kaum realistisch zu erheben sind. Daher sind zusätzlich personalisierte Verfahren erforderlich. Diese kombinieren „one-shot-learning” – eine Methode im maschinellen Lernen, bei der ein Modell die Fähigkeit entwickelt, aus einem einzigen Beispiel zu lernen, ohne umfangreiche Trainingsdaten zu benötigen – klassische Anpassung durch Regelkreise und durch KI verbesserte Wahrnehmungsmethoden der assistierenden Systeme. Solche adaptiven Systeme existieren derzeit kaum. Es besteht also ein erheblicher Forschungsbedarf.
Wie lässt sich verhindern, dass KI-Systeme bestehende Vorurteile verstärken?
Um eine faire und diskriminierungsfreie KI zu gewährleisten, ist es entscheidend, dass die Trainingsdaten für die KI-Systeme vielfältig und repräsentativ sind. Sie sollten die Diversität der Menschen abbilden. Dies erfordert eine sorgfältige Auswahl und Aufbereitung der Daten, die durch transparente und verantwortungsvolle Datenpraktiken gewährleistet werden kann.
Wie lässt sich ein ausgewogener Ansatz zwischen Datennutzung und Datenschutz gewährleisten, insbesondere im Kontext von KI-Anwendungen in einer inklusiven Arbeitswelt?
Die Datenbasis, auf der die KI-Systeme trainiert werden, berührt sensible und personenbezogene Bereiche wie Gesundheitsdaten oder Lernfortschritte. Daher stellt der Schutz dieser Daten und der Persönlichkeitsrechte eine zentrale Herausforderung dar. Beispielsweise dürfen Daten, die zur Auswertung des Lernverhaltens und des Lernfortschritts erhoben werden, um individualisierte Lerninhalte bereitzustellen, nicht dazu verwendet werden, Beschäftigte miteinander zu vergleichen oder diejenigen zu bevorzugen, die schneller Lernerfolge erzielen. Die Entwicklung und Implementierung dieser Systeme erfordert daher eine ständige Abwägung zwischen der Optimierung der Nutzbarkeit der Systeme und dem Schutz der Daten und Persönlichkeitsrechte der Nutzer*innen.
Wie kann das Vertrauen gefördert werden, dass sensible Daten geschützt sind?
Es ist wichtig, dass den Beschäftigten jederzeit klar ist, welche Daten von der jeweiligen Technologie erfasst werden, wie und wo diese Daten verarbeitet werden und wer in welcher Form – zum Beispiel anonymisiert – Zugang zu diesen Daten hat. Gleichzeitig sollten Bemühungen, den Datenschutz bereits auf technischer Ebene zu gewährleisten, – wir sprechen hier von Privacy-by-Design – unterstützt und weiterentwickelt werden.
Welche weiteren Herausforderungen ergeben sich beim Einsatz von KI-Technologien in einer inklusiven Arbeitswelt?
Der Einsatz von KI-Technologien darf nicht zu einer erhöhten Exklusion führen, insbesondere wenn die Aufgaben bei der Arbeit interdisziplinärer und komplexer werden und die Qualifikationsanforderungen steigen. Sich durch Weiterbildung an neue Gegebenheiten in der Arbeitswelt anzupassen, kann für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit psychischen Beeinträchtigungen zu einer deutlich schwierigeren Situation führen. Ähnliches gilt für eine Arbeitswelt, die stärker auf interdisziplinäre Kommunikation setzt: Menschen mit Beeinträchtigungen in sozialen und kommunikativen Kompetenzbereichen könnten hier größere Schwierigkeiten erleben als ihre Kolleg*innen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass wir diese Aspekte bei der Implementierung von KI-Technologien berücksichtigen.
Sehen Sie mehr Risiken oder Chancen?
Trotz aller Risiken, die mit der Implementierung von KI verbunden sind, sehen wir vor allem die Chancen für eine inklusive Arbeitswelt! Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Entwicklung geeigneter Technologien und der Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen – sei es in der Unternehmenskultur, der Förderung und Regulierung von Technologien oder einer barrierefreien Ausbildung mit angepassten Curricula. Denn: Die Teilhabe an der Arbeitswelt beginnt bereits mit einer inklusiven Bildung.