Katalonien-Referendum: Eskaliert der Konflikt? Politikwissenschaftlerin Johanna Hornung zur möglichen Abspaltung von Spanien
Das katalonische Regionalparlament könnte am 10. Oktober seine Unabhängigkeit ausrufen. Regionalpräsident Carles Puigdemont hatte nach dem illegalen Referendum betont, dass er sich an dessen Ergebnis gebunden fühle. Johanna Hornung, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der Technischen Universität Braunschweig, hat an der Universitat Pompeu Fabra in Barcelona geforscht. Wir haben sie zur aktuellen Entwicklung in Spanien befragt.
Die für den 9. Oktober geplante Sitzung des katalanischen Regionalparlaments, bei der die Proklamation der Unabhängigkeit erwartet worden war, wurde vom spanischen Verfassungsgericht verboten. Jetzt hat Regionalpräsident Carles Puigdemont für den 10. Oktober eine Rede vor dem Parlament in Barcelona angekündigt. Ist es vorstellbar, dass dann tatsächlich die Unabhängigkeit ausgerufen wird?
Vorstellbar ist es durchaus. In Katalonien gibt es einen tief verwurzelten Wunsch nach Unabhängigkeit, der historisch immer mehr gewachsen ist. Unter der Herrschaft Francos kam es zu der bisher letzten gewaltsamen Auseinandersetzung Kataloniens mit der spanischen Regierung. Damals war auch die katalanische Sprache, die für die soziale Identität der Katalanen zentral ist, verboten. Diese Identitätsunterdrückung trug zur Verstärkung der katalanischen Identität und mit ihr der Wunsch nach Unabhängigkeit bei. Auch heute noch ist die Sprache ein wichtiges Charakteristikum der katalanischen Bevölkerung – bei der Bekleidung politischer und öffentlicher Ämter ist es beispielsweise obligatorisch, dass die Amtsinhaber die katalanische Sprache beherrschen. Auch die Sitzungen des Regionalparlamentes werden auf Katalanisch abgehalten. Die katalanische Identität ist folglich auch im Regionalparlament präsent und prägend.
Die Mehrheit im Parlament befürwortet eine Abspaltung von Spanien. Entsprechend erwartet die katalanische Bevölkerung vom Parlament den Ausruf der Unabhängigkeit als Konsequenz des Ergebnisses des Referendums. Sollte das Parlament dem nicht folgen, könnten sich die Befürworter der Unabhängigkeit auch gegen ihre eigene Regierung richten. Die Regierungsparteien waren 2015 mit dem Wahlversprechen der Unabhängigkeit angetreten.
Wie muss sich dann die Europäische Union verhalten? Und welche Auswirkungen hätte eine Unabhängigkeit Kataloniens auf die EU?
In ihrer Rolle müsste die EU eigentlich als Vermittler auftreten. Jedoch kann die EU sich aus politischen Gründen nicht auf die Seite einer katalanischen Nation stellen. Eine Akzeptanz der katalanischen Unabhängigkeit durch die EU würde die spanische Regierung aufs Schärfste verurteilen. Aber auch andere Mitgliedstaaten sehen sich immer wieder mit separatistischen Bewegungen konfrontiert. Katalonien als Präzedenzfall birgt die Gefahr einer Dynamik, die schnell auf andere europäische Regionen übergreifen kann: Schottland im Noch-Mitgliedstaat Großbritannien, Flandern in Belgien, die Bretagne in Frankreich – die Liste separatistischer Bewegungen in der EU ist lang. Die EU-Mitgliedstaaten stehen deshalb auch aus Selbstinteresse auf der Seite der spanischen Regierung, um Instabilität zu verhindern.
Von Seiten Kataloniens ist der Zugang zur EU einer der Hauptgründe gegen eine Unabhängigkeitserklärung. Das Veto Spaniens würde die Aufnahme Kataloniens als Mitgliedstaat verhindern, der Fortbestand der EU-Mitgliedschaft Kataloniens wäre unklar. Die größtenteils pro-europäischen Katalanen streben jedoch eine Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft, vor allem aus ökonomischen Gründen, an. Katalonien zieht einen Großteil seiner Wirtschaftsleistung aus Tourismus und Industrie – beide Zweige würden durch den Verlust des Zugangs zum barrierefreien Waren- und Personenverkehr erheblich geschwächt werden.
Kann sich Spanien wirtschaftspolitisch eine Abspaltung der Region leisten?
Kataloniens Wirtschaftsleistung beträgt etwa ein Fünftel der Wirtschaftsleistung Gesamtspaniens. Dieser Umstand lässt vermuten, dass eine Abspaltung wirtschaftlich vor allem für Spanien ein Verlust wäre. Katalonien weist, verglichen mit der nationalen Situation, überdurchschnittliche wirtschaftliche Kennzahlen auf, die innerhalb Spaniens in der Umverteilung münden. Ohne Katalonien wäre Spanien erneut in der wirtschaftlichen Krise, die ohnehin noch nicht vollständig überwunden ist. Einige Unternehmen kündigten zwar an, im Zuge der instabilen Lage in Katalonien ihre Hauptsitze ins Innere des Landes zu verlagern. Dies dürfte jedoch auch nur kurzfristige wirtschaftliche Erfolge bringen. Am Ende wäre Spanien vermutlich auf Unterstützung der EU angewiesen – ein weiterer Grund für die EU, gegen die Unabhängigkeit Position zu beziehen.
Wir haben im Fernsehen Bilder des Polizeieinsatzes während des Referendums gesehen. Hat das die Stimmung im Land noch einmal verändert oder verschärft?
Die spanische Regierung hatte bereits vor dem Referendum unter anderem durch Besetzung und Räumung von Wahllokalen versucht, eine Abstimmung zu verhindern. Allerdings führte die andauernde Repression stattdessen zu einer Verstärkung der katalanischen Identität und damit auch des Wunschs nach Autonomie. Dieser psychologische Prozess, dass äußere Unterdrückung von Bestrebungen innerhalb einer sozialen Gruppe zu einer Verstärkung der Gruppenidentität führt, lässt sich in unterschiedlichen Kontexten beobachten und erinnert viele Katalanen an die Unterdrückung früherer Regierungen. Die Bilder von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern – vor allem der spanischen Polizei – vermitteln einen hohen Grad an Emotionalität. Die Spaltung des Landes ist nun auf einem Level, das jederzeit zur Eskalation des Konflikts führen kann. Einmal eskaliert, lässt sich dieser gewaltsame Konflikt dann nur schwer schlichten.
Hätte die Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy die Möglichkeit gehabt, die Entwicklung der vergangenen Monate in eine andere Richtung zu lenken?
Für die spanische Regierung ist der katalanische Separatismus nichts Neues. Jedoch waren die politischen Konstellationen in den vergangenen Jahrzehnten kaum einer vergleichbaren Eskalation so nahe. Hinzu kommt die seit der Finanzkrise stark verschlechterte wirtschaftliche Lage Spaniens. Eine überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit und die subjektiv empfundene ungerechte Verteilung von Wirtschaftsleistung und Wohlstand, die neben der katalanischen Identität den zweiten Hauptpfeiler der Unabhängigkeitsbewegung darstellt, bieten Nährboden für Radikalisierung. Bisher zeichneten sich die spanische Regierung und der katalanische Separatismus durch eine eher pluralistische Struktur aus. Innerhalb der katalanischen Bevölkerung gibt es ebenso Befürworter wie Gegner der Abspaltung und unter den Befürwortern finden sich linke, rechte und liberale Flügel der Unabhängigkeitsbewegung. Ebenso gibt es im spanischen Parlament eine Vielzahl von Parteien, die mehr oder weniger Verständnis für die regionalen Positionen aufbringen. Von der aktuellen Eskalation des Konflikts profitieren dabei jeweils die radikalen Lager, die die Gegenseite verteufeln und bekämpfen.
In den vergangenen Monaten haben es beide Seiten versäumt, eine konsensorientierte Lösung zu verhandeln und auf die Interessen und subjektiven Wahrnehmungen der jeweils anderen Seite einzugehen. Ein großes Problem sind auch die korrupten Vorgänge in der Regierungspartei PP und die damit verbundene gefühlte Benachteiligung der Katalanen in Bezug auf die Regierungsarbeit. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen regionalen Herausforderungen ist aber zwingend notwendig, um das Land zusammenzuhalten. Gleichzeitig ist eine Verhandlungsbereitschaft der katalanischen Regierung notwendig, um einer Konflikteskalation entgegenzuwirken. Wenn es in diesen Punkten nicht zeitnah zu einer Annäherung der sich zunehmend misstrauenden Seiten kommt, rückt eine sachliche Problemlösung immer weiter in die Ferne.