3. Mai 2021 | Magazin:

Eine Ode an die unwegsamste aller Landschaften Professor Jan Röhnert über sein Buch "Vom Gehen im Karst"

Während seine Mitschüler sich in der Kleinstadt treffen, verbringt Jan Röhnert die Nachmittage seiner Kindheit im hauseigenen Steinbruch, bahnt sich dort Pfade durch die Holunderbüsche und erkundet den vom Urgroßvater in den Sandstein hineingetriebenen Luftschutzbunker. Dieses Gestein, das in einst mit Wasser gefüllten Höhlen, Senken und Gruben, Platz zum Denken, Fühlen und Erleben bereithält, zieht den Jungen magisch an. Und auch als Erwachsener lässt er davon nicht ab: in Frankreich, in Italien und immer wieder, beinahe manisch, im Südharz und in der Thüringer Landschaft macht sich Jan Röhnert auf, um diese geheimnisvolle Steinformation Schritt für Schritt zu erkunden. Seine Wege protokolliert er akribisch als Lokalkunde, deren Zauber in der Benennung aufblitzt. Als an der Literatur geschulter Leser praktiziert er ein Close Reading der Landschaft, die er wortgewandt inventarisiert in einer poetischen Liste einer Landschaft im Übergang. Anna Lux, Geschäftsführerin des Forschungsschwerpunkts „Stadt der Zukunft“, hat mit Professor Jan Röhnert vom Institut für Germanistik über sein Buch „Vom Gehen im Karst“ gesprochen.

Professor Jan Röhnert auf der Karstwanderweg im Südharz. Bildnachweis: Jan Röhnert/TU Braunschweig

Nicht jedem ist der Begriff „Karst“ verständlich. Was verbirgt sich dahinter?

Unter Karst versteht man allgemein Landschaften, in denen unterirdische Entwässerung und wasserlösliche Gesteine (zum Beispiel alle Kalk- und Karbonatgesteine) anzutreffen sind. Es ist durchaus kein seltenes Phänomen: Etwa 15% Prozent der Erdoberfläche sind auf diese Weise mit Karst überzogen, seine Erscheinungsformen können jedoch sehr verschieden sein.

Wer oder was (Mensch oder Ereignis) hat Sie dazu inspiriert, ein Buch über den Karst zu verfassen?

Mir ist aufgefallen, dass im Werk des Nobelpreisträgers Peter Handke immer wieder vom Karst die Rede ist. Das Karge, Ausgelaugte, Zerklüftete solcher Gegenden wird bei ihm überraschenderweise immer wieder aufgesucht als Raum, der offenbar andere, womöglich utopische Erfahrungs- und Lebensmöglichkeiten zulässt. Zunächst war ich der Meinung, dass Karst nur im südosteuropäischen Raum, an der Adria, in Istrien oder auf dem Balkan existiere. Dann merkte ich: Er beginnt vor der eigenen Tür. Von Braunschweig aus ist man in einer Stunde dort – nämlich im Südharz.

Worin unterscheidet sich das Gehen im Karst vom Gehen woanders?

Es gibt im Karst kein geradliniges Laufen, Joggen, stures Vorwärtspreschen. Da würde man sich schnell im nächsten Erdfall oder einer Doline die Beine brechen. Es ist ein Gehen, das einem ein Bewusstsein für die Beschaffenheit von Oberfläche und Terrain abverlangt, für das Auf und Ab zwischen Buckeln, Mulden, Senken, die Achtsamkeit für die jeweilige Stelle, auf die ich meinen Fuss gerade setze: Es könnte eine Schwelle zur Unterwelt sein.

Dolinenkrater bei Questenberg im Südharz. Bildnachweis: Jan Röhnert/TU Braunschweig

Sie haben verschiedene Erscheinungen des Karst in unterschiedlichen Ländern erkundet. Wie ist der Karst in das menschliche Leben eingebunden?

Er bedingt beispielsweise die Art zu bauen, die Art eine Stadt, einen Park, einen Garten, eine Wasserleitung oder eine Straße anzulegen. Karstgesteine, etwa Muschelkalk, Sandstein oder Gips werden oder wurden selber gern als Baumaterialien verwendet – daher findet man in Karstgebieten immer wieder auch Steinbrüche, die zur natürlichen Umgebung sozusagen einen zweiten, menschgemachten „Karst“ hervorbringen. Zugleich hat besonders der ursprüngliche Karst eine erstaunliche Biodiversität, eine ganz eigene Flora und Fauna aufzuweisen.

Welche Zusammenhänge lassen sich – gegebenenfalls auf einer abstrakten Ebene – zwischen Karst und Stadt oder Stadtregionen herstellen?

Es gibt Städte, die auf Karst entstanden sind oder die zunehmend mit Verkarstung zu tun haben. Da stellt sich die Frage: Ist der Boden überhaupt noch sicher, auf dem die Häuser stehen (werden)? Städte, die ihr Wasser beispielsweise aus Karstregionen beziehen, in denen Bergbau und Industrie angesiedelt sind, stehen mitunter vor Problemen mit der Menge und Qualität ihrer Wasserversorgung. Ein kleiner Riss, eine Verschiebung in der Tektonik und es ist plötzlich versiegt.

Wieviel Zeit ist zwischen der Idee dieses Buches und der Umsetzung entstanden?

Die Idee dazu hatte ich bereits 2016, im Jahr 2018 machte ich mich daran, sie umzusetzen – denn da konnte ich die Freisemester antreten, die mir dank des Sponsoring der VolkswagenStiftung im Programm „Originalitätsverdacht“ winkten.

Welche Herausforderungen galt es dabei zu bewältigen?

Fragen der Auswahl, der Selektion betrafen natürlich auch dieses Projekt: In welche Regionen gehe ich für wie lang? Was schaue ich mir konkret an? Welche Forschung, welche Literatur ziehe ich heran? Auf welche Fragen, welche Schwerpunkte lege ich besonderen Wert? Und schließlich: Wie bringe ich die gewonnenen Anschauungen und Ergebnisse zusammen, wie kann daraus eine Erzählung entstehen, die literarische Lektüren, naturwissenschaftliche Seitenblicke und persönliche Geschichten, Begegnungen und Beweggründe zusammenbringt?

Karstdorf mit Doline und Polje im Vorland der Cévennen in Südfrankreich. Bildnachweis: Jan Röhnert/TU Braunschweig

Gibt es über den Karst noch ungeschriebene Kapitel? Welche wären das?

Mehr als genug. Ich fand es schade, dass ich mich unter den großen Karstlandschaften im deutschen Raum auf den Südharz beschränken musste und nicht auch noch den mächtigen, von der Fränkischen zur Schwäbischen Alb sich ziehenden Karstgürtel in den Blick nehmen konnte. Oder die umfangreichen Karstländer des Balkanraumes, die zwar bei anderen Autoren schon intensiv beschrieben sind, die aber für die Forschung so wichtig sind, weil die Phänomene des Karst zuerst dort beschrieben und benannt worden sind. Von den außereuropäischen Karsthochländern, Karststeppen und Karstgebirgen, zum Beispiel dem iranischen Zagros, dem russischen Ural oder dem Kalkplateau Yucatans ganz zu schweigen – es gäbe (und gibt hoffentlich in Zukunft noch) viele weitere Wege in den Karst.

Was würde Ihr studentisches Ich zu dem Buch „Vom Gehen im Karst“ sagen?

Mein studentisches Ich kannte den Begriff „Nature Writing“ seinerzeit noch nicht. Ich bin sehr froh, dass ich meinen Studierenden heute dieses Genre nahebringen kann.