Die Zukunft der urbanen Küste Gabriel David über die neue Junior Research Group „Future Urban Coastlines“
Steigende Meeresspiegel, Sturmfluten, Überschwemmungen – was bedeutet der Klimawandel für unsere Küsten und Städte? Die neue Nachwuchsforschergruppe „Future Urban Coastlines“ untersucht, welchen Gefahren städtische Gebiete an den Küsten ausgesetzt sind und entwickelt Ansätze für die Anpassung an den Klimawandel und den Schutz der Küsten. Mit Dr.-Ing. Gabriel David, dem Leiter der interdisziplinären Nachwuchsforschergruppe, hat Bianca Loschinsky über die Zukunft der urbanen Küsten gesprochen.
Herr David, Sie leiten seit August 2021 die neue Junior Research Group (JRG) „Future Urban Coastlines“. Welche urbanen Küsten haben Sie hier im Blick?
Wir schauen zunächst auf das, was am nächsten liegt, also zum Beispiel Richtung Nordsee. Dort haben wir als Leichtweiß-Institut für Wasserbau (LWI) bereits verschiedene Projekte im eher ländlichen Raum, sodass wir auf Erkenntnisse im renaturierten Küstenschutz aufbauen können. Die Aufgabe unserer Nachwuchsforschergruppe ist es unter anderem, diese Ergebnisse auf den enger bebauten, urbanen, Raum zu transferieren – also auf Siedlungsgebiete, in denen Platzmangel herrscht, wo man der natürlichen Dynamik nicht den Platz und die Freiheit bieten kann, die sie eigentlich benötigt.
In Hamburg gibt es verschiedene Initiativen, die sich mit der Elbe beschäftigen, aber natürlich sind auch die Siedlungsgebiete auf den Nordseeinseln interessant. Mittelfristig werden wir uns hoffentlich auch international mit dem Thema auseinandersetzen. Daran habe ich ein besonderes Interesse: Meine Dissertation habe ich hauptsächlich über kleine Inselstaaten im globalen Süden geschrieben, mit Fokus auf den Malediven, die ein sehr eng besiedelter Raum sind.
Was wird die Junior Research Group konkret untersuchen?
Grundsätzlich geht es darum, ökologisch sinnvollere Maßnahmen bei Küstenschutzbauwerken und Materialien anzubieten, die dem Lebensraum und den Bewohnern an der Küste helfen. Eine Art Renaturierung von Bereichen, die momentan noch sehr technisch sind. Stichworte sind hier „Animal-Aided Design“ oder „Biodiversity Sensitive Urban Design“. Das heißt zum einen, dass man Habitate für bestimmte Spezies schafft, die aber auch ingenieurstechnischen Anforderungen genügen. Falls dies nicht möglich ist, versuchen wir die Durchgängigkeit der Schutzmaßnahmen für bestimmte Spezies mitzudenken und somit zumindest die Lebensräume nicht voneinander zu trennen oder zu unterbrechen.
Langfristig wollen wir uns Richtung „spatial planning“, also Raumplanung bewegen, und den Bogen zwischen den Fakultäten spannen. Ich sehe die Junior Research Group ganz klar als interdisziplinäre Forschungsgruppe im Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“, die sich zum Beispiel auch mit den Sozialwissenschaften vernetzt und sich an den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen oder der Ocean Decade orientiert.
Aus welchen unterschiedlichen Disziplinen kommen die Wissenschaftler*innen der Junior Research Group?
Die Nachwuchsforschergruppe geht auf eine gemeinsame Initiative von Professor Nils Goseberg, Professor Boris Schröder-Esselbach und Professor Harald Kloft zurück, so dass wir zunächst die Bereiche Küsteningenieurwesen, Geoökologie, Architektur und Bauingenieurwesen mit dabeihaben.
Am LWI gibt es bereits verschiedene disziplinübergreifende Projekte, wie beispielsweise „Gute Küste“ oder BIVA-WATT. Hier untersuchen Wissenschaftler*innen zum Beispiel, welche Auswirkungen die Austernpopulation in der Nordsee auf den Küstenschutz hat. Diese beiden Projekte werden wir anfangs mit der JRG auch unterstützen, aber natürlich werden wir auch unsere eigenen Akzente im Bereich „Stadt der Zukunft“ setzen.
Wie sieht die Zukunft der urbanen Küsten aus? Welchen Gefahren sind sie ausgesetzt?
Als eine Gefahr ist natürlich der Meeresspiegelanstieg zu nennen, die hydrostatische Last, die auf das Bauwerk wirkt. Zum anderen aber auch kaskadierende Effekte: Wenn der Wasserspiegel steigt, nimmt die Wassertiefe zu und die Wellen brechen später, das heißt näher am Bauwerk. Und damit ist auch die hydrodynamische Last am Bauwerk höher. Ganz sicher ist, dass der Meeresspiegel steigen wird. Was noch nicht ganz klar ist, ob die Stürme schlimmer werden und somit auch Wellen in unseren Breitengraden stärker.
Wie muss hier jetzt gehandelt werden?
Der Meeresspiegelanstieg war 2.000 Jahre lang in etwa gleichbleibend. Jetzt wissen wir, dass der Meeresspiegel relativ stark und plötzlich ansteigt. Wir wissen aber noch nicht genau, um wie viele Meter. Wenn wir etwas bauen, müssen wir als Bauingenieur*innen nachweisen, dass das Bauwerk ein gewisses Lebensalter erreicht und aufgrund der Lasten und Einwirkungen nicht kaputt geht. Das ist die sogenannte Bemessungslebensdauer. Vor dem Hintergrund der unsicheren Vorhersagen, können wir uns aber nicht darauf verlassen, dass die Bauwerke in den nächsten 100 Jahren den geplanten Schutz bieten können oder den erhöhten Lasten widerstehen, weil wir heute den Wasserstand am Ende des Jahrhunderts noch nicht vorhersagen können.
In der Forschung gibt es inzwischen Ansätze, wie „robust decision making“ oder „dynamic adaptation pathways“. Damit versucht man adaptiver zu handeln, das heißt sich mit kleineren Maßnahmen schrittweise anzupassen, anstatt zum Beispiel den Deich so hoch zu bauen, dass er einem Meeresspiegelanstieg von 1 bis 1,50 Meter standhält. Wir schauen über die Zeit, was der technologische Fortschritt bringt, aber auch, welche Auswirkungen der Klimawandel momentan hat.
Dieses Prinzip wurde bereits bei den sogenannten Klimadeichen in Schleswig-Holstein angewandt. Dabei wurde die jetzt prognostizierte Erhöhung des Meeresspiegels mit einberechnet. Darüber hinaus wurden die baulichen Voraussetzungen geschaffen, um den Deich noch zu erweitern oder verstärken zu können. Das ist ein solch adaptiver Ansatz: Wir kümmern uns um das, was wir gerade sehen können und schauen dann, wie schlimm es wird.
Und natürlich soll dieser Küstenschutz möglichst nachhaltig und grün sein. Wir als JRG „Future Urban Coastlines“ möchten, dass es nicht nur grüner aussieht, sondern dem ganzen Ökosystem an Ufern und Küsten wirklich zugutekommt.
Wo werden vielleicht neue städtische Küsten in 10 bis 20 Jahren entstehen?
Berlin liegt demnächst am Meer – das ist immer das Hollywoodszenario. Der neuste IPCC-Report (Sechster Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change/Weltklimarat) geht von einem Meeresspiegelanstieg von einem bis etwas über 1,50 Metern im schlimmsten Fall aus. Gebiete, die unter dem Meeresspiegel liegen (wie die Niederlande) können dann überschwemmt werden, wenn die Anpassungsmaßnahmen nicht mehr funktionieren und die Deiche oder technische Bauwerke zerstört sind. Einen Meter bis 1,50 Meter ist ungefähr der Unterschied zwischen Normalwasserstand und Tidehochwasser. Was jetzt bei Flut der Wasserstand an der Nordsee ist, wird dann der mittlere Meeresspiegel sein. Hier käme beim Meeresspiegelanstieg das Hochwasser bei Flut natürlich noch hinzu. Dadurch wird sich die Küstenlinie sicherlich nicht an die Berliner Stadtgrenze verschieben, aber in Küstenregionen werden nicht nur wir Menschen, sondern besonders das küstennahe Ökosystem den Unterschied merken.
Dennoch: Mein Gefühl ist, dass wir am Ende vieles noch zu positiv einschätzen, weil es etwa Kipppunkte gibt und weil wir bestimmte Faktoren in den Modellen noch nicht einplanen bzw. noch nicht vorhersehen können. Daher ist es umso wichtiger, neue Technologien und Verfahren im Küstenschutz zu entwickeln und anzuwenden, um angemessen auf unsichere Vorhersagen reagieren zu können. Zum Beispiel ermöglichen uns automatisierte 3D-Druck Verfahren und die dazugehörigen digitalen Herstellungstechniken ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten. Gleichzeitig muss moderner Küstenschutz nicht nur dem Menschen als Teil des Ökosystems nutzen, sondern sich in das gesamte Ökosystem “Küste” integrieren.
Welche Möglichkeiten der Anpassung an den Klimawandel gibt es? Wie können die Küsten und damit die Städte geschützt werden?
Ein Beispiel von den Malediven, zu denen ich geforscht habe: Auf der Insel Fuvahmulah wurde vor 20 Jahren ein Hafen gebaut, der den natürlichen Sedimenttransport stört. Damit wird die natürliche Schutzfunktion der Insel unterbunden. Eine Riff-Insel hat unter Umständen eigentlich recht gute Möglichkeiten, sich natürlich an steigende Meeresspiegel anzupassen. Korallenriffe wachsen mit, da brechen auch welche ab oder erodieren aus anderen Gründen und daraus entsteht dann wiederum dieser schöne Sand – es gibt dort keinen Fluss, der das Sediment in Richtung Küste transportieren könnte. Durch den angespülten Sand besteht die Möglichkeit, dass diese Inseln quasi mitwachsen können.
Wenn man jedoch große Küstenschutzbauwerke baut, befestigt man die Insel immer mehr. Das führt schließlich zu einem Effekt, wie man in Malé, der Hauptstadt der Malediven, sehen kann. Diese Betonwüste hat keine natürliche Kapazität mehr, um sich anzupassen. Hier muss der Mensch immer mehr eingreifen und nachhelfen.
Wir haben auf Fuvahmulah gesehen, dass es auf der anderen Seite des Hafens zu Sandablagerungen kam. Hier könnte man erst einmal den Sand nehmen und diesen auf die andere Seite transportieren, um zu schauen, ob das die Erosion aufhält oder sogar umkehrt. Ein, zwei Jahre lang. Erst einmal sollte man sich die Ursachen genau ansehen und eine kleinere Maßnahme testen.
Wir sollten den Blick darauf richten, ob es in der natürlichen Dynamik Schutzwirkungen gibt, ob das Ökosystem eine „Ökosystemdienstleistung“ Küstenschutz vorhält, die wir nutzen können, bevor wir den traditionellen technischen Ingenieurweg gehen. Wir wollen nicht in der Natur, sondern mit der Natur bauen. Das ist der Grundgedanke der JRG, den wir auch gerne in der Praxis mehr etablieren wollen.
Ihre Doktorarbeit hat das Thema „From coastal protection to ‚low-regret‘ coastal adaptation“. Was bedeutet „low regret“ in diesem Zusammenhang?
Ein Bauwerk legen wir immer für einen Bemessungshorizont aus. Je nach Bauwerk sind es 20 Jahre (das ist eher selten) oder 50 Jahre oder 100 Jahre (zum Beispiel bei Brücken). Und dann bemessen wir das Bauwerk so, dass es den außergewöhnlichen Ereignissen standhält, gleichzeitig aber auch den täglichen Lasten widerstehen kann.
An der Küste wurde über lange Zeit als Gefahrenaspekt quasi nur die Sturmflut und damit die höheren Wellen berücksichtigt. Der Meeresspiegelanstieg wurde nur nachrangig behandelt. Jetzt müssen wir uns aber auch an den Klimawandel und die Klimawandeleffekte anpassen – und einer davon ist der Meeresspiegelanstieg. Wie bereits beschrieben, können wir das nicht mehr vorhersagen. Diese ganze Rechnung, die wir sonst als Bauingenieur*innen aufmachen, damit ein Bauwerk 100 Jahre hält, ist nun hinfällig. Wir wissen einfach nicht, was uns im Lauf der nächsten 100 Jahre erwartet. In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben wir Ereignisse gemessen und konnten Extremereignisse statistisch vorhersagen. Jetzt wird es jedoch hochkomplex, da sich die Naturgefahren ändern und wir nicht wissen, wie. Deshalb muss ein Umdenken stattfinden, dass wir nicht mehr in 100-Jahres-Schritten denken dürfen. Wir müssen jetzt überlegen, welche Wege es gibt und wie wir uns anpassen können. Es müssen Anpassungen getroffen werden, die uns später nicht mehr weh tun, die sogenannten „low regret“-Maßnahmen. Die Kernfrage dahinter lautet: Wie können wir uns jetzt anpassen, ohne uns in Zukunft Anpassungswege zu verbauen?
Wie beschrieben, haben wir nachgewiesen, dass die Riffinsel Fuvahmulah mit dem Meeresspiegel anwachsen kann. Es gibt also eine natürliche Kapazität, sich anzupassen. Wenn wir jedoch auf der Insel das ganze Ufer befestigen, schützt das dann für einen gewissen Wasserstand, aber wir verbauen uns die natürliche Kapazität des Ökosystems “Korallenriff” sich auch an höhere Wasserstände anzupassen. Deshalb der „low regret“-Ansatz hinsichtlich zukünftiger Anpassungsmaßnahmen.
Was hat Sie selbst dazu bewogen, im Bereich Küstenschutz zu forschen?
Ich habe an der Fachhochschule Mainz meinen Bachelor im Internationalen Bauingenieurwesen gemacht. Mainz hat natürlich nicht viel mit Küste zu tun. Durch die internationale Ausrichtung des Studiengangs habe ich jedoch ein Auslandssemester an der Chalmers University in Göteborg (Schweden) gemacht. Dort habe ich den Grundlagenkurs „Waves and Coastal Structures“ belegt, den ich sehr spannend fand, inklusive der numerischen Modellierung. Das war der Grundstein für mein weiteres Interesse an den Themen Wellen und Küstenschutz.
Von Mainz bin ich schließlich nach Hannover gegangen. Professor Torsten Schlurmann hatte damals neuen Schwung im Bereich Küsteningenieurwesen eingebracht, der mich schließlich dafür begeistert hat.
Können Sie selbst Urlaub am Meer machen, ohne an Küstenschutz zu denken?
Wellenreiten macht mir sehr viel Spaß. Wenn ich herauspaddele, schaue ich, an welcher Stelle die besten Wellen sind. Da hilft mir mein Wissen natürlich sehr. Ich bin vielleicht nicht der beste Surfer, aber ich weiß immer, wie ich gut herauskomme, weil ich einen Blick für die Strömung habe und ich mir ausrechnen kann, wo die Wellen ordentlich brechen. Für mich ist es also nichts Schlimmes, dabei auch an die Arbeit zu denken und den Küstenschutz im Blick zu haben.
Ich bin oft in Nordspanien unterwegs, wo es viele Steilküsten gibt und das Wetter nicht ganz so sonnig ist, wie man es von Spanien erwartet. Als Surfer*in hilft es, den Unterschied zwischen Wellen an der Nordsee und in Nordspanien zu verstehen. Die Wellen in der Nordsee entstehen dort. Die Wellen, die in Spanien ankommen, sind einmal quer durch den Atlantik gerollt und haben sich sortiert. Und dann sehen sie auch ganz anders aus: Sie sind viel länger, viel schneller und steilen sich in Küstennähe stärker auf. Bei wirklich guten Verhältnissen, wie zum Beispiel in Japan, bekommt man als Laie beim Anpaddeln tatsächlich zahlreiche Wellen nicht, da sie extrem schnell sind.
Sie haben sich schon viele Küsten angesehen. Welche gefällt Ihnen am besten?
Mir gefällt die nordspanische Küste am besten, das Zusammenspiel zwischen Steilküste und Strand und natürlich die tollen Wellen. Aber auch Japan hat mich begeistert. Manche behaupten die Wellen dort sind besser zum Surfen als auf Hawaii.
Welche Küste müssen wir am meisten im Blick haben, wenn es darum geht, sie zu schützen?
Aus meiner Arbeit mit den kleinen Inseln würde ich sagen, dass uns kleine Inseln für Anpassungen an den Küstenschutz viel beibringen können. Das ganze Anpassungsportfolio, das das IPCC vorschlägt, finden wir dort. Es gibt den ingenieurmäßigen Schutz, zum Beispiel auf Malé, den ökosystembasierenden Schutz – sei es zum Beispiel durch Mangroven oder durch natürliche Sediment-Dynamik – und den Accomodation-Effekt, in dem man die Häuser auf Stelzen stellt, damit sie dem Wasser nicht zu stark ausgesetzt sind. Hinzu kommt der Advance-Effekt, also nach vorn zu bauen. Das ist sehr gut auf der Nachbarinsel von Malé zu sehen. Hier wurden Teile aufgeschüttet, um den Menschen mehr Raum zu bieten. Und politisch werden natürlich die Retreat-Optionen besprochen, also ein Rückzug von den Inseln. Von den kleinen Inselstaaten können wir in Bezug auf die Klimawandelanpassungen viel lernen.
Ein interessantes Zitat eines spanischen Küsteningenieurs, das mich in dem Zusammenhang immer begleitet und mir oft wieder in den Sinn kommt: Die Küste selber braucht keinen Schutz. Nur die Menschen, die an der Küste leben, brauchen ihn. Denn für die Küste ist es völlig normal, dass sie sich ständig verändert.