Die Prinzipien des Verhaltens – mit Newton und Darwin auf dem Weg zu einer formalen Theorie Fünf Fragen an Dr. Matthias Borgstede und Professor Frank Eggert
Warum verhalten wir uns so, wie wir uns verhalten? Mit dieser Frage beschäftigen sich viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in verschiedenen Disziplinen wie beispielsweise der Psychologie oder der Verhaltensbiologie. Gibt es allgemeine Prinzipien des Verhaltens, die erklären warum man etwas tut und etwas anderes lässt?
Wir wissen einiges darüber, in welchen Situationen man sich wie verhält, und die Psychologie hat eine ganze Reihe von mehr oder weniger allgemeinen Gesetzmäßigkeiten gefunden, denen das Verhalten von Menschen folgt. Aus der Verhaltensbiologie haben wir Erkenntnisse darüber, wie das Verhalten durch evolutionäre Anpassungsprozesse geformt wird, und warum wir bestimmtes Verhalten beobachten und anderes nicht. Doch viele Verhaltensweisen sind nicht direkt durch natürliche Selektion geformt worden, sondern entwickeln sich erst im Laufe des Lebens. Sind diese unabhängig von den evolutionären Prozessen der Anpassung?
Dr. Matthias Borgstede (Universität Bamberg) und Prof. Frank Eggert (TU Braunschweig) sagen: Nein, das sind sie nicht. Zwar wird dieses erfahrungsabhängige Verhalten nicht direkt durch natürliche Selektion geformt, aber es ist auch nicht unabhängig davon. Unser Verhalten wird durch die Konsequenzen, die es für uns hat, geformt. Ob diese Konsequenzen ein Verhalten fördern oder hemmen, das hängt davon ab, welche Rolle diese Konsequenzen für die Evolution spielen. Das Lernen bekommt also erst durch die Evolution seine Richtung.
Die beiden Wissenschaftler haben diesen Gedanken präzisiert und darauf aufbauend die formalen Grundlagen einer allgemeinen Theorie des Verhaltens entwickelt. In abstrakten Formeln beschreiben sie die allgemeinsten Prinzipien des Verhaltens.
Worum geht es in Ihrer Forschung und was ist innovativ daran?
Frank Eggert: Uns hat immer schon interessiert, ob man auch in der Psychologie oder allgemeiner in den Verhaltenswissenschaften grundlegende Prinzipien finden kann, die auf abstrakter Ebene die große Vielfalt der Phänomene, die wir beobachten können, erklären können. In der Physik geht das, wie wir spätestens seit Newton wissen, und auch in der Biologie haben wir mit der von Darwin begründeten Evolutionstheorie eine grundlegende Theorie der biologischen Phänomene. Wir haben versucht, auch in der Wissenschaft vom Verhalten solche Prinzipien zu finden und glauben, dass uns das tatsächlich gelungen ist.
Matthias Borgstede: Die Lösung, die wir gefunden haben, vereint die Theorie der Evolution mit Theorien der Veränderung von Verhalten durch Lernen und integriert das Lernen als besondere Form der Selektion in die allgemeine Evolutionstheorie. Früher haben viele gedacht, dass es angeborenes Verhalten gibt, das durch die Evolution geformt worden ist, und erlerntes Verhalten, das sich von der Evolution unabhängig im Laufe des Lebens aus den Erfahrungen speist. Wir sagen, dass das, was wir Lernen nennen, nur eine besonders schnelle Form der Anpassung ist, deren Richtung von evolutionären Prozessen bestimmt wird.
Welche Probleme lösen Sie damit und warum ist das relevant?
Matthias Borgstede: In der Psychologie haben wir viele Gesetzmäßigkeiten im Verhalten gefunden. Wir können diese präzise beschreiben, wir können mathematische Modelle dafür formulieren und Vorhersagen daraus ableiten. Allerdings gelten diese Gesetzmäßigkeiten immer nur für bestimmte Situationen. Sie sind zwar praktisch nützlich, aber wir verstehen erst einmal nicht, warum gerade diese Gesetzmäßigkeiten gelten und nicht ganz andere, die genauso gut möglich wären.
Eine allgemeine Theorie des Verhaltens erklärt zum einen, warum diese anderen Gesetzmäßigkeiten eben doch nicht „genauso gut gelten könnten“, sondern warum wir genau die finden, die wir tatsächlich beobachten. Zum anderen liefert sie die Grundlage dafür, ganz neue Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, an die wir vielleicht noch gar nicht gedacht haben, die sich aber logisch aus der allgemeinen Theorie ableiten lassen.
Wenn wir in der Lage sind, eine allgemeine Theorie für das Verhalten zu entwickeln, dann wissen wir nicht nur, wie man sich verhält, sondern auch, warum man sich gerade so verhält.
Warum ist es wichtig, sich heutzutage mit Theorien zu beschäftigen und welchen Nutzen bringt uns ein solches theoretisches Wissen in der Psychologie, aber auch im Alltag?
Matthias Borgstede: Theoretische Forschung hat es manchmal schwer, weil in vielen Bereichen nach direkter Anwendbarkeit und unmittelbarer Nützlichkeit gesucht wird. Aber in der Wissenschaft geht es nach unserem Verständnis nicht primär um die Lösung von praktisch relevanten Problemen. Wir versuchen, zu verstehen, wie das Verhalten ganz prinzipiell funktioniert.
Frank Eggert: Wir glauben, dass die Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen von ganz entscheidender Wichtigkeit ist.
Auf der Grundlage von zutreffenden Theorien können wir viel einfacher verlässliche Vorhersagen machen und tatsächlich funktionierende Interventionen entwerfen. Das können wir zwar auch dann, wenn wir nicht verstehen, wie etwas funktioniert, aber in diesem Fall sind wir auf Versuch und Irrtum angewiesen und jeder, der schon einmal nach dieser Methode versucht hat, ein Problem zu lösen, wird bestätigen können, dass dabei in der Regel viele Versuche nötig und viele Irrtümer unausweichlich sind. Insofern geht Probieren dann doch nicht wirklich über Studieren, auch wenn das ein immer wieder zitierter Satz ist.
Der zweite Grund, warum wir es so wichtig finden, die theoretischen Grundlagen gerade der Psychologie weiterzuentwickeln und sich nicht nur auf die Lösung sozialtechnologischer Probleme zu konzentrieren, liegt darin, dass wir nur so in der Lage sind, grundlegend falsche Vorstellungen zu revidieren und ein zutreffendes Bild von der Art und Weise zu erlangen, warum wir uns wie verhalten. Denken wir einmal an ein Snookerspiel, die anspruchsvolle Billard-Variante. Stellen wir uns vor, dass alle denken, der Spieler würde den Ball durch die Berührung mit dem Queue zur richtigen Bewegung „motivieren“. Und der Ball würde diese dann aus eigenem Antrieb heraus ausführen? Wäre das nicht komisch? Wieso wirkt diese Erklärung beim Snooker so absurd und – und das ist die viel wichtigere Frage – warum wirkt sie bei der Frage nach unserem Verhalten nicht absurd? Was wäre, wenn unser Verständnis des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer grundlegend falsch wäre? Wenn es so wäre, würden wir das nicht wissen wollen?
Was empfehlen Sie Forschenden und Studierenden, die in dieser Art und Weise theoretische und empirische Wissenschaft anwenden und lernen möchten?
Frank Eggert: Hören Sie auf, nur zu lernen! Es ist zwar wichtig, sich Wissen anzueignen, nicht nur aus dem eigenen Fach, sondern z. B. auch aus der Mathematik (nicht, um komplizierte Sachen rechnen zu können, sondern um zu wissen, was für formale Strukturen evtl. geeignet sein könnten, als formale Modelle für die inhaltlich interessierenden Sachverhalte dienen zu können, aber dieses Wissen ist nur der Ausgangspunkt der theoretischen Arbeit und ersetzt diese nicht. Die Fähigkeit, formal-abstrakt zu denken und zu argumentieren und sich von der konkret-anschaulichen Ebene zu lösen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die theoretische Arbeit.
Matthias Borgstede: Wenn man etwas verstehen will, muss man in der Lage sein, von Einzelfällen in der richtigen Art und Weise zu abstrahieren. Man muss sich von der vermeintlich klaren Ordnung der Dinge lösen, weil diese zwar oft plausibel scheint, aber theoretisch häufig irreführend ist. Und das ist nicht einfach. Außerdem ist es schwierig, das alleine zu machen, und unmöglich, wenn man es mit den falschen Mitstreitern versucht. Deshalb ist es ist wichtig, es von denen zu lernen, die es können, und mit denen zu üben, die es lernen wollen. Und wenn man Glück hat, ist die Universität der Ort, an dem man das alles kann.
Wie geht es jetzt weiter? Wie wird oder müsste sich das Forschungsfeld entwickeln und möglicherweise auch verändern, wenn Ihre Erkenntnisse berücksichtigt werden, welche Forschung sollte sich anschließen und was sind die nächsten Herausforderungen?
Matthias Borgstede: Wir würden uns natürlich freuen, wenn unsere Arbeit andere dazu anregt, sie weiterzuentwickeln. Wir haben gezeigt, dass sich aus unserer Theorie eine Reihe von empirisch gut belegten Gesetzmäßigkeiten ableiten lassen. Interessant wäre natürlich zu sehen, wie tragfähig die Theorie ist, ob sie tatsächlich in der Lage ist, alle Regularitäten im Verhalten erklären zu können, ob sich ganz neue Phänomene vorhersagen lassen, die noch gar nicht beobachtet worden sind und die es damit erlauben würden, die Theorie auch empirisch zu testen. So, wie wir die Theorie jetzt präsentiert haben, ist sie auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, denn wir wollten ja versuchen, eine allgemeine Theorie des Verhaltens zu begründen und die ist natürlich notwendigerweise sehr abstrakt. Interessant ist, wie man die Theorie für unterschiedliche Phänomenbereiche spezifizieren muss und kann, um spezifische Vorhersagen aus ihr ableiten zu können.
Frank Eggert: Und, nicht zuletzt ist eine wichtige Frage, ob sie dazu beitragen wird, unsere Sicht auf das Verhalten grundlegend zu ändern? Wenn wir die Prinzipien des Verhaltens verstehen, heißt das zwar nicht, dass wir alle Probleme, die etwas mit dem Verhalten der Menschen zu tun haben — und das sind eine Menge – lösen können. Durch das Verständnis der physikalischen Gesetze werde ich ja auch nicht gleich ein herausragender Snookerspieler (leider!). Wenn wir aber grundsätzlich falsch liegen in unserem Verständnis davon, warum man sich so verhält, wie man es tut, dann wird das mit dem Problemlösen richtig schwer.