Die Black-Box mit Physik füllen Henning Wessels ist neuer Juniorprofessor für Daten-getriebene Modellierung und Simulation mechanischer Systeme
Big Data ist in aller Munde. Auch im Ingenieurbereich. Doch wie können diese Daten nach den Regeln der Physik eingesetzt werden, um Modelle und Simulationen zu verbessern? Damit beschäftigt sich Henning Wessels, seit Mai neuer Juniorprofessor im Institut für rechnergestützte Modellierung im Bauingenieurwesen. Im Interview erzählt er, weshalb wir Daten als Ressource betrachten sollten, was die Black-Box mit Physik zu tun hat und für welches Problem er eine Lösung entwickeln möchte.
Herr Wessels, Sie sind Juniorprofessor für „Daten-getriebene Modellierung und Simulation mechanischer Systeme“. Was genau verbirgt sich dahinter? Wie würden Sie Ihre Arbeit jemanden wie mir erklären, die nicht aus Ihrem Bereich kommt?
Fangen wir mit dem mechanischen System an, das kann zum Beispiel ein Fachwerkhaus sein oder eine Windenergieanlage. Die Aufgabe von Bauingenieur*innen ist es, solche Bauwerke so zu planen, dass sie sicher sind. Dafür brauchen wir Modelle. Wir müssen also modellieren, und zwar nach den Regeln der Physik. Modellierer*innen müssen sich immer daran messen lassen, ob ihre Modelle den Regeln der Physik folgen. Diese Beweisführung ist teils ziemlich komplex, weshalb wir oft auf vereinfachte Modelle zurückgreifen.
Und jetzt zu den Daten! Das Schlagwort Big Data ist in aller Munde, wird aber bislang vor allem mit Facebook, Google & Co in Verbindung gebracht. Aber auch Ingenieur*innen verfügen über immer mehr und immer genauere Daten über die Systeme, die sie entwickeln und überwachen. Wie können wir diese Daten nach den Regeln der Physik einsetzen, um unsere Modelle und Simulationen zu verbessern? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns in der Daten-getriebenen Modellierung und Simulation.
Was hat Sie dazu bewogen, in diesem Bereich zu forschen?
In meiner Promotion habe ich zur numerischen Simulation eines additiven Fertigungsprozesses geforscht. Das übergeordnete Ziel dabei ist es, den Zusammenhang zwischen den Prozessparametern und den Eigenschaften additiv gefertigter Teile besser zu verstehen. Die herkömmliche Vorgehensweise geht in etwa so: Wir rechnen zahlreiche Parameterkombinationen, werten die Ergebnisse aus und fällen eine Entscheidung. Danach werden die Ergebnisse für Dokumentationszwecke abgelegt oder sogar gelöscht. Für die Erzeugung der Daten haben aber mehrere Computer mitunter tagelang gerechnet und kostbare Energie verbraucht. Das fand ich unbefriedigend. Ich finde, wir sollten Daten generell als Ressource betrachten und uns mit Methoden beschäftigen, die uns erlauben, später gezielt auf einmal erzeugte Daten zurückgreifen zu können. Dieses Thema finde ich spannend, dazu möchte ich gerne etwas beitragen.
Mit welchen Forschungsschwerpunkten und Projekten werden Sie sich an der TU Braunschweig auseinandersetzen?
Ein Forschungsschwerpunkt ist die additive Fertigung. Unabhängig von der Anwendung liegt mein Fokus aber in der Modellbildung. Ingenieur*innen vertrauen dabei zuallererst auf die Physik. Rein Daten-getriebene Modelle haben heute den Nachteil, dass man nicht in sie hineinsehen kann, um zu prüfen, ob sie sich auch an die Physik halten. Deshalb ist häufig von einer Black-Box die Rede. Wenn es uns gelingt, diese Black-Box mit Physik zu füllen, schaffen wir Vertrauen und können zahlreiche neue Anwendungsfelder erschließen, zum Beispiel in der Medizin. Wenn wir aus MRT Daten zuverlässig und effizient Parameter für ein numerisches Simulationsmodell ableiten können, sind wir in der Lage, Krankheitsverläufe zu simulieren und Ärzte bei der Diagnose zu unterstützen.
Welche Rolle spielt Wissenschaftskommunikation bei Ihrer Arbeit?
Diese Rolle kann man gar nicht überschätzen! Big Data entsteht ja nicht an der Uni, sondern in der realen Welt. Um unsere Konzepte mit echten Daten testen zu können, brauchen wir die Anbindung an die Praxis. Das funktioniert nur, wenn wir unsere Forschung verständlich präsentieren. Aber auch innerhalb der Uni ist Kommunikation in unserem Bereich extrem wichtig. Die Daten-getriebene Modellierung bildet eine Schnittstelle zwischen klassischen Fächern des Bauwesens wie der Mechanik und eher jüngeren Disziplinen, die sich mit maschinellem Lernen befassen. Da müssen wir miteinander sprechen, gemeinsam neue Anwendungsfelder erschließen und Forschungspotenzial aufdecken.
Was war Ihr schönstes Erlebnis als Wissenschaftler? Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?
Fangen wir mal mit dem Unangenehmen an: Tagelang am Computer zu sitzen und den selbstprogrammierten Fehler nicht zu finden, ist manchmal zermürbend und frustrierend. Meine Frau wird dem zustimmen (lacht). Wenn es dann aber funktioniert, sich der ganze Gedankenkreis schließt und sich auf einmal ganz neue Perspektiven und Anwendungsfelder auftun, hat sich die ganze Arbeit gelohnt. Schön ist es auch, wenn im Austausch mit Kolleg*innen Neues entsteht. Für mich steht nicht das eine schöne Erlebnis im Vordergrund, mich begeistert mehr die fortlaufende Horizonterweiterung.
Was möchten Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?
Bisher verwenden wir Daten in der Regel nur für die Validierung bestehender Modelle. Wir werden aber immer mehr dahin kommen, dass wir aus Daten direkt neue, angepasste Modelle und Gestaltungshinweise ableiten können. Idealerweise hilft uns das, schneller auf wandelnde Anforderungen zu reagieren. Schnelles Reaktionsvermögen auf Veränderung wird immer wichtiger, denken wir nur an den Klimawandel. Wir stehen hier aktuell noch am Anfang mit allen Chancen auf spannende neue Anwendungsfelder. Die Studierenden sollten daher offen sein, dann können sie in dem neuen Feld auch eigene, wichtige Impulse setzen. In meinen Vorlesungen möchte ich ihnen dafür Grundlagen vermitteln.
Noch ein Ausblick auf die Zukunft: Für welches Problem würden Sie gern eine Lösung entwickeln?
Im Allgemeinen möchte ich dazu beitragen, vermeintlichen Datenmüll dem Recycling zuzuführen. Für additive Fertigungsprozesse forsche ich an einem digitalen Zwilling, der es ermöglichen soll, funktional gradierte Materialien drucken zu können. Wir sind im 3D-Druck heute bereits sehr flexibel in der Formgebung. Wenn wir zusätzlich noch die Materialeigenschaften lokal anpassen können, werden sich noch ganz neue Einsatzmöglichkeiten erschließen, zum Beispiel bei Implantaten. Ich hoffe, für dieses Projekt demnächst Drittmittel bewilligt zu bekommen, um hier schneller voranzukommen.