Der Erinnerungsskandal von Peenemünde Gastbeitrag von Constanze Seifert-Hartz und Thomas Köhler
Bierkrüge, Sammelteller, sogar Vasen und Untersetzer sind die stummen Zeugen eines Geschichtsskandals aus dem Jahr 1992. Sie ziert die Inschrift „PEENEMÜNDE 3. Oktober 1942“ und eine Abbildung der V-2, die Bildikone des 250 Seelenortes auf der Ostseeinsel Usedom. Was heute absurd erscheint, war in den 1990er Jahren noch im Museumsshop des Historisch-Technischen Informationszentrums Peenemünde zu finden. Die Vermarktung als „Geburtsort der Raumfahrt“ stieß bereits zu dieser Zeit auch international auf erheblichen Widerstand. Nun jährte sich der Raketenstart zum 75. Mal und mit ihm die Kontroverse um die Erinnerungskultur.
Drei, zwei, eins, Zündung – so oder ähnlich hieß es wohl am 3. Oktober 1942 um 15.58 Uhr auf dem Prüfstand VII der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Was für die Ingenieure und Techniker der dritte praktische Versuch eines Raketenstarts war, ging in die Entwicklungsgeschichte der Raketentechnik als ein historisches Datum ein. Denn zum ersten Mal startete eine A4-Rakete, die spätere V-2, erfolgreich, das heißt sie erreichte eine stabile Flugbahn und eine Gipfelhöhe von fast 85 Kilometern. Erstmals soll damit ein von Menschenhand gefertigtes Objekt die Grenze zum Weltraum überschritten haben, heißt es heute in den Geschichtsbüchern. Doch was technisch ein Durchbruch war, sollte wenige Jahre später tausende Menschen das Leben kosten.
Umstrittenes Gedenken
Noch heute, 75 Jahre später, gibt dieses Datum Anlass, über seine Bedeutung und den bisherigen Umgang nachzudenken. Wenige Erinnerungsorte der NS-Geschichte sind derart umstritten wie Peenemünde. Von 1936 bis 1945 wurde dort das größte militärische Forschungszentrum Europas geschaffen, wo neben Ingenieuren und Technikern auch tausende Zwangsarbeiter arbeiteten. Eine Geschichtsaufarbeitung vor Ort fand während der DDR nicht statt, aber in den Stützpunkten der Marine und Luftstreitkräfte der NVA in Peenemünde gab es einzelne Soldaten, die sich damit beschäftigten und nach der Deutschen Einheit ein Historisch-Technisches Informationszentrum aufbauten. Erst 1992, zum 50. Jahrestag des 3. Oktober, wurde auch der Öffentlichkeit die Dualität des Erinnerns um Peenemünde wieder bewusst.
Zwischen technischer Höchstleistung und menschlichem Abgrund
Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie nahm das Jubiläum 1992 zum Anlass, um an den Beginn des Raumfahrtzeitalters in Deutschland zu erinnern. Doch die damals einseitige Auslegung der Ereignisse wurde dem historischen Rahmen nicht gerecht. Vergaß sie doch, dass die Massenproduktion der V-2 seit Anfang 1944 unter menschenunwürdigen Bedingungen im KZ-Komplex Mittelbau-Dora stattfand. Die Serienausführung des A4 wurde als „Vergeltungswaffe 2“ (V-2) für die späte Kriegspropaganda bedeutsam, durch deren Einsatz und für deren Produktion tausende Menschen starben.
Mythos im Schatten der Vergangenheit
Zu einem großen Teil geht der Mythos um die „Wiege der Raumfahrt“ auf den damaligen Leiter des Raketenprogramms, Walter Dornberger, zurück. Insbesondere sein Redeentwurf zum ersten Startversuch im Jahr 1942 und sein Buch „V2. Der Schuss ins Weltall“ aus dem Jahr 1952 trugen dazu bei. Für Dornberger markierte der 3. Oktober 1942 den Beginn des Raketen- und Raumfahrtzeitalters. Im Westen galt die A4-Rakete seit den 1960er Jahren als Ursprung der verschiedenen militärischen und zivilen Trägerraketen. Zahlreiche ehemalige Peenemünder um den Raketeningenieur Wernher von Braun fanden nach dem Zweiten Weltkrieg in den militärischen und später auch zivilen US-Raketen- und Raumfahrtprogrammen Beschäftigung. Dort arbeiteten sie unter anderem an der Mittelstreckenrakete Redstone und der Apollo-Weltraummission zum Mond mit.
Neue Vorzeichen für die Erinnerung
Noch 1972 erteilte Wernher von Braun, der mittlerweile als das Gesicht der deutschen Raketenentwicklung galt, einer großen Gedenkfeier zum 30. Jahrestag mit der Prognose für eine negative Presseberichterstattung eine Absage. Zwei Jahrzehnte später hatten sich die Vorzeichen geändert. Ehemalige NVA-Soldaten und Kraftwerker aus Peenemünde sowie weitere Geschichtsinteressierte aus der Region gründeten 1991 das Historisch-Technische Informationszentrum und konzipierten eine Ausstellung im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Unter dem Motto „Geburtsort der Raumfahrt“ zogen sie ein Massenpublikum an.
Erinnerungsskandal verhindert Raumfahrtpark
Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie entdeckte Peenemünde nun ebenfalls. Mit Unterstützung der Bundes- und Landespolitik und der Deutschen Agentur für Raumfahrtangelegenheiten (DARA) lagen später sogar Pläne von Dornier für einen Raumfahrtpark auf dem Tisch. Im Frühjahr 1992 begannen die Initiatoren vom Bundesverband der Deutschen Luft-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie (BDLI), der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) und das Bundeswirtschaftsministerium mit der Planung einer Gedenkveranstaltung „50 Jahre Raumfahrt. Erbe – Verpflichtung – Perspektive“ in Peenemünde. Die Marketing- und Werbemaschinerie rund um das Jubiläum wurde hochgefahren. Wenige Tage davor, Ende September 1992, erschienen die ersten Berichte in der britischen Tagespresse, die deutschen Medien und internationalen Agenturen schlossen sich der kritischen Berichterstattung an. Zeitweise hielten sich mehr als 500 Journalisten aus der ganzen Welt in Peenemünde auf.
Mit diesem Gegenwind hatte die Deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie nicht gerechnet und die Initiatoren sagten die Veranstaltung sofort ab. Zurück blieben die Museumsmacher, die mit den Plänen nichts zu tun gehabt hatten, sondern eine eigene Gedenkveranstaltung im kleine Rahmen geplant hatten. Ihnen wurde der Skandal zum Verhängnis. Die Kritik gegenüber einer populärwissenschaftlichen und zu technikbezogenen Ausstellung wuchs, so dass die Landesregierung eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Versuchsanstalten veranlasste. Im Jahr 2000/2001 eröffnete eine neue Dauerausstellung im ehemaligen Kraftwerk. Die Auswirkungen des Erinnerungsskandals sind bis heute in Peenemünde spürbar und haben die Entwicklung des Museums nachhaltig geprägt.
Ein Jubiläum mit offenen Fragen
Historiker und Museumswissenschaftler beschäftigt noch heute die Frage, warum der 3. Oktober 1942 nach wie vor ein wichtiges Datum für verschieden Interessengruppen ist und welche Bedeutung dem Prüfstand VII auf dem ehemaligen Testgelände zugemessen wird. Geht es um die Suche nach Traditionen? Pionierleistungen in der Technikerinnerung oder Deutschen Ingenieurskunst? Zwar sind die Souvenirs mit startenden Raketen im Laufe der 1990er Jahre aus dem Sortiment des Museums verschwunden, aber die Nachfrage besteht weiterhin. Neben selbstkreierten Devotionalien im Internet sind diese Angebote auch noch auf der Insel Usedom zu finden. Das Kooperationsprojekt „Meta-Peenemünde“ am Institut für Geschichtswissenschaft der Technische Universität Braunschweig will diese und andere Erinnerungspraktiken sowie ihre Ursprünge in Zusammenarbeit mit dem Museum erforschen.