15. Mai 2023 | Magazin:

Delhi – eine sich schnell entwickelnde Metropole voller Kontraste Future City Goes Global mit Bartek Sawicki

Wie sieht die lebenswerte Stadt von morgen aus? Um darauf Antworten zu finden, tauschen sich Wissenschaftler*innen des Forschungsschwerpunkts „Stadt der Zukunft“ mit Forscher*innen weltweit aus. In der Reihe „Future City Goes Global“ nehmen sie uns mit in andere Städte, zeigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten und berichten von geplanten Forschungskooperationen. Bartek Sawicki vom Institut für Tragwerksentwurf gibt uns Einblicke in seinen Aufenthalt beim „Indo-German Forum on Sustainable Urban Mobility“ in Neu-Delhi.

Bartek Sawicki vor dem Indian Institute of Technology Delhi, das Gastgeber des Indo-German Forum war. Bildnachweis: Bartek Sawicki/TU Braunschweig

Herr Sawicki, was war der Anlass Ihrer Reise?

Ich habe vor Kurzem in Neu-Delhi an einem Workshop zum Thema „Integrated Engineering for Future Mobility“ teilgenommen. Bei dem Workshop haben sich zwölf junge Wissenschaftler*innen von TU9-Universitäten und zwölf Forschende des Indian Institute of Technology Delhi und des Indian Council for Scientific and Industrial Research ausgetauscht. Die Veranstaltung wurde vom Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) Neu-Delhi im Rahmen des „Indo-German Forum: Sustainable Urban Mobility” gefördert.

Ich habe eine Woche dort verbracht, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Forschung und bei gesellschaftlichen Herausforderungen zu diskutieren. Wir haben zusammen überlegt, wie indische und deutsche Wissenschaftler*innen voneinander lernen können.

„Wir haben uns mit ‚Slow Zones‘ beschäftigt, verkehrsberuhigte Quartiere, die einen angenehmen und menschenfreundlichen Raum für die Bewohner*innen schaffen sollen. Dieses Konzept wird inzwischen in Europa, den USA und anderen Orten umgesetzt und führt häufig zur Schaffung von Verkehrskorridoren und ruhigen Bereichen in der Mitte.“

Welche Forschungsthemen standen während Ihres Aufenthalts im Mittelpunkt?

Unsere Gruppe war sehr divers. Sie reichte von Wissenschaftler*innen, die an Batterien für Elektrofahrzeuge oder autonomen Autos arbeiten, bis hin zu Stadtplaner*innen. Unser Ziel war es, nach nicht-offensichtlichen Synergien zu suchen, um mobilitätsbezogene Probleme anzugehen.

Als Bauingenieur habe ich gemeinsam mit Mobilitäts- und Stadtplaner*innen in einer Gruppe gearbeitet. Wir haben vor allem darüber diskutiert, wie unterschiedlich die Städte in Europa und Indien auf den ersten Blick sind, aber auch, wie ähnliche Konzepte gefunden werden können.

So haben wir uns mit den sogenannten „Slow Zones“ beschäftigt, verkehrsberuhigte Quartiere, die einen angenehmen und menschenfreundlichen Raum für die Bewohner*innen schaffen sollen. Dieses Konzept wird inzwischen in Europa, den USA und anderen Orten umgesetzt und führt häufig zur Schaffung von Verkehrskorridoren und ruhigen Bereichen in der Mitte. Ein solches Modell wurde in der Vergangenheit in Indien und insbesondere in Neu-Delhi umgesetzt – mit abgeschlossenen Vierteln oder großen Anwesen, die Sicherheit bieten, und breiten Straßen um sie herum, die als störend empfunden werden. Betrachtet man europäische Städte, in denen der Verkehr gleichmäßig über die Stadt verteilt ist, und indische Städte mit ihren abgeschotteten Siedlungen und störenden Verkehrskorridoren, so kann man die beiden Enden eines Spektrums beobachten, wobei das Optimum wahrscheinlich irgendwo dazwischenliegt. Dies zeigt, dass sowohl Europäer*innen als auch Inder*innen einiges voneinander lernen können.

Das Büroviertel Cyber City in Gurgaon. Bildnachweis: Bartek Sawicki/TU Braunschweig

Was hat Sie am meisten in der Stadt beeindruckt?

Definitiv die Vielfalt! In Delhi kann man wirklich alles finde! Angefangen bei Alt-Delhi: Dort gibt es Straßen, die nicht breiter als einen Meter sind, die auch tagsüber von den angrenzenden Gebäuden beschattet werden, und die plötzlich mit einer offenen Tür zu einem kleinen Schrein oder einer Privatwohnung enden. Mit Straßenmärkten, Kühen, Hunden und Ratten, die umherlaufen, und Menschen, Motorrollern und Rikschas, die die gesamte verfügbare Straße einnehmen.

Weiter geht’s über den Kartavya Path (auch Rajpath oder Kingsway genannt), einen von den Briten entworfenen Herrschaftsweg, der sich zwischen dem Präsidentenpalast und dem India Gate erstreckt, ein kahler und schattenloser Asphaltstreifen von fast drei Kilometern Länge, der für Paraden gedacht ist und, so wette ich, in den Sommermonaten unerträglich heiß ist.

„Der Bus war vollelektrisch! Das war nur ein weiterer Beweis dafür, dass Indien ein sich schnell entwickelnder Subkontinent voller Kontraste ist.“

Schließlich noch Gurgaon (formell eine Stadt im Nachbarstaat, aber Teil der Metropole Delhi) mit seiner Hochbahn und den Wolkenkratzern aus Beton, Stahl und Glas. Das Geschäfts- und Technologiezentrum, bei dem man vergisst, ob man sich in Indien, Europa oder den USA befindet.

Mein persönliches Highlight, das auch das Potenzial Indiens deutlich macht, war jedoch die Fahrt von Agra nach Delhi, nachdem wir am Samstag das berühmte Taj Mahal besucht hatten und der offizielle Teil des Workshops beendet war. Wir stiegen in einen Überlandbus mit indischen Tourist*innen auf dem Weg zurück nach Delhi, auf einer überfüllten und vermüllten Straße ohne Beleuchtung. Im Inneren des Busses waren die Sitze äußerst bequem, die Klimaanlage funktionierte sogar zu gut, und die etwa 250 Kilometer lange Fahrt dauerte dank der neuen dreispurigen Autobahn mit glatterem Asphalt als auf manchen deutschen Straßen nur drei Stunden. Aber das Wichtigste: Der Bus war vollelektrisch! Das war nur ein weiterer Beweis dafür, dass Indien ein sich schnell entwickelnder Subkontinent voller Kontraste ist.

„In Delhi habe ich nicht allzu viele öffentliche Parkplätze gesehen, ganz nach dem Motto: dein Auto – dein Problem.“

Was macht diese Stadt aus? Was könnten wir uns für deutsche Städte abschauen?

Die beiden Länder Indien und Deutschland haben völlig unterschiedliche Bedarfe und Herausforderungen. Vor allem wenn ich daran denke, wie überfüllt indische Städte sind, und wie leer und klein sich Braunschweig nach meiner Rückkehr anfühlte.

Was wir uns in Deutschland definitiv abschauen könnten, ist ein Umdenken in Bezug auf den motorisierten Verkehr. Private Fahrzeuge sind in überfüllten Städten nicht das effizienteste Verkehrsmittel. Sie nehmen unverhältnismäßig viel Platz in Anspruch. In Delhi habe ich nicht allzu viele öffentliche Parkplätze gesehen, ganz nach dem Motto: dein Auto – dein Problem.

Die helle und geräumige U-Bahn-Station Rajiv Chowk, auf deren Dach sich der Central Park befindet. Bildnachweis: Bartek Sawicki/TU Braunschweig

Der Straßenmarkt in Alt-Delhi. Bildnachweis: Bartek Sawicki/TU Braunschweig

Die Unterführung, die zwei U-Bahnlinien während der morgendlichen Stoßzeiten verbindet (Station Hauz Khas). Bildnachweis: Bartek Sawicki/TU Braunschweig

Der Kartavya Path Chowk mit Blick auf das India Gate. Bildnachweis: Bartek Sawicki/TU Braunschweig

Was ist in der Stadt das Fortbewegungsmittel Nummer 1?

Die Fortbewegungsmittel Nummer eins ist zweifellos die U-Bahn. Das Metro-Netz, das in den vergangenen 20 Jahren dynamisch gewachsen ist, besteht heute aus neun regulären Linien, einer Expresslinie zum Flughafen und zwei weiteren Linien im Ballungsraum. Alle paar Monate werden neue Abschnitte eröffnet.

Dieses schnelle, klimatisierte und zuverlässige Verkehrsmittel wird von der mittleren und oberen Mittelschicht bevorzugt, beispielsweise von den Angestellten den Behörden der Hauptstadt. Sauber und sicher, mit elektronischem „Check in – Check out“-System und mehreren Umsteigebahnhöfen, ermöglicht es eine schnelle und bequeme Fahrt durch die ganze Stadt. In jedem Bus gibt es Sitzplätze für Senior*innen und Frauen. Um den Reisekomfort und die Sicherheit für Frauen zu erhöhen, was in Indien immer noch ein Problem ist, ist der erste Wagen ausschließlich für sie reserviert. Das Problem der „letzten Meile“ wird durch die allgegenwärtigen Rikschas gelöst. Die Fahrer warten an jeder U-Bahn-Station auf ihre Kund*innen, immer öfter in ihren Elektrofahrzeugen.

Interessanterweise werden öffentliche Busse von der Mittelschicht nicht als praktikables Verkehrsmittel angesehen. Trotz des kostenlosen Zugangs für Frauen und einer für sie reservierten ersten Hälfte jedes Fahrzeugs werden sie als gefährlich, unbequem und langsam wahrgenommen. Das soziale Spektrum der Fahrgäste in U-Bahnen und Bussen ist also grundverschieden – etwas Ungewöhnliches für Europäer*innen, die ein öffentliches Verkehrssystem als ein Ganzes wahrnehmen.

Welche Forschungskooperationen sind geplant?

Hauptziel meines Besuchs und des vom DWIH organisierten Workshops war es, Kontakte zu knüpfen und neue und relevante Forschungsfragen zu diskutieren. Dabei haben wir festgestellt, dass der erste Schritt unserer Zusammenarbeit darin bestehen sollte, die Herausforderungen des jeweils anderen zu verstehen und zu prüfen, ob die Tools, mit denen sie an einem Ort bewältigt werden können, an einem anderen auch funktionieren. Insbesondere möchten wir prüfen, ob digitale Verfahren wie die additive Fertigung im Bauwesen, wie sie vom Sonderforschungsbereich TRR 277 Additive Manufacturing in Construction (AMC) entwickelt werden, in Indien eine praktikable Lösung darstellen, beispielsweise für den Bau neuer U-Bahnlinien. Ich hoffe, dass mit einer Forschungsarbeit dazu noch in diesem Jahr begonnen werden kann, da es zahlreiche laufende akademische Austausch- und Kooperationsprogramme zwischen Deutschland und Indien gibt.

Vielen Dank.