4. November 2025 | Magazin:

Das Wilde beginnt vor der Haustür Professor Jan Röhnert erhält den Seume-Literaturpreis für sein Buch „Wildnisarbeit“

In „Wildnisarbeit“ erkundet Professor Jan Röhnert Landschaften, die vielen auf den ersten Blick kaum auffallen – Leipziger Brachen, den Archipel Höhbeck an der Elbe oder die Steinbruchwiesen Ostthüringens. Für sein außergewöhnliches literarisches Sachbuch wurde der Literaturwissenschaftler jetzt mit dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis ausgezeichnet. „Mit ihm tauchen wir tief in Lebensschichten ein, die uns umgeben und tragen. Kultur, Landschaft und Natur werden auf besondere Weise betrachtet, beschrieben und gewürdigt. Der Autor geht, denkt nach, reflektiert, ordnet ein und folgt seiner Berufung, Erkenntnisse aus der Bewegung und dem Unterwegssein zu gewinnen“, heißt es in der Jury-Begründung. Ein Gespräch mit Professor Röhnert vom Institut für Germanistik über wilde Räume, Landschaftspflege und Nature Writing. 

„Ich suche Wildnis nicht im menschenleeren Raum, sondern dort, wo plötzlich etwas unerwartet, „wild“ hervorbricht.“ Bildnachweis: Mirette Bakir

Herr Professor Röhnert, was bedeutet eigentlich der Begriff der Wildnis und wozu benötigen wir ihn insbesondere in einem urbanen Umfeld?

Es kommt darauf an, von welcher Richtung man sich dem Begriff nähert. „Wildnis“ ist ein Passepartout, auf den man so ziemlich überall trifft. Von den vielen verschiedenen Verwendungen, Phantasmen und Imaginationen von Wildnis lässt sich meistens ein Kern herausschälen, der die Vorstellung von unberührter, „gelassener“ Natur enthält. In der Biologie sind „Wildformen“ die ohne die kultivierende Hand des Menschen vorkommenden Erscheinungsweisen der Natur. „Wildnis“ ist aber auch ein juristischer Begriff, der zum Beispiel im sogenannten „Wilderness Act“ der Vereinigten Staaten den Status von großen Naturschutzgebieten, Naturreservaten usw. regelt. Wildnis ist in Literatur und Populärkultur oft mit der Vorstellung eines Ortes verknüpft, an dem noch keine Menschen waren. Mein Bild von Wildnis ist ein wenig anders: Da Menschen letztlich schon überall auf dem Globus ihren Fuß hingesetzt haben (was nicht zwangsläufig zum Ende natürlicher, „wilder“ Räume führen muss, zudem sind Menschen selbst Teil der Natur), suche ich Wildnis nicht im menschenleeren Raum, sondern dort, wo plötzlich etwas unerwartet, „wild“ hervorbricht.

Urbane Räume scheinen so ziemlich das Gegenteil von „Wildnis“ darzustellen mit der geregelten städtischen Verkehrsinfrastruktur, der kleinparzelligen Bebauung, der funktionalen Architektur. Was wir vergessen, ist, dass auch und gerade Städte in eine konkrete Landschaft und Natur eingebettet sind, sie bleiben Teil von Ökosystemen, die von Bebauung und Zivilisation häufig verdeckt, aber selten ganz zugedeckt sind. Zum Glück gibt es etwa mit städtischen Brachen immer wieder – zumindest auf Zeit – große ungenutzte Flächen, in denen sich Natur ungestört ansiedeln kann. Und es ist oft erstaunlich, was dann mit einem Mal an biologischer Vielfalt an solchen vermeintlichen „Schandflecken“ aus Schutt, aus verlassenen Fabrikhallen und Industriekomplexen, aus Ruinen oder gar hochgradig kontaminierten Flächen – ein Extrembeispiel wäre die in der Sperrzone um den Reaktor von Tschernobyl herum entstandene Wildnis – hervorbricht. Diese Bereiche an den Rändern oder auch manchmal in den Zentren des Urbanen zu entdecken, sie wahrzunehmen, literarisch zu „kartieren“, nach Möglichkeit zur Bewahrung solcher neu entstandener Biotope beizutragen, das ist auch ein Teil der „Wildnisarbeit“, wie ich sie verstehe. Auf der anderen Seite ist meine Recherche als Literaturwissenschaftler auch eine Arbeit und Kritik am Begriff sogenannter Wildnis.

In Zeiten von Klimakrise und Biodiversitätsverlust: Welche Bedeutung bekommt „Wildnisarbeit“ heute?

Wildnisarbeit nach meinem Verständnis wäre beispielsweise Landschaftspflege auf Flächen, auf denen die Hand des Menschen zwischen der permanent ‚arbeitenden‘ Natur und menschlichen Vorstellungen und Zielen wie (Re-)Kultivierung, Nachhaltigkeit, Biodiversität, Klimaschutz, aber etwa auch Schönheit, Gestaltung, (Landschafts-)Kunst vermittelt. Das wäre idealerweise eine „Arbeit“, die sich an dem orientiert, was wild vorkommt oder aufgetreten ist, etwa rare und bedrohte Arten, und diesen dann mit pflegerischen Maßnahmen dabei hilft, sich dauerhaft anzusiedeln oder zu vermehren. Wildnisarbeit in diesem Sinne braucht deshalb nicht nur ein permanentes Machen und „Arbeiten“, sondern auch das Gegenteil: ein Lassen, ein Zuschauen, sich in die Eigenzeit der Natur hineinversetzen. Klimakrise und Biodiversitätsverlust sind menschengemacht, Phänomene des Anthropozän. Aber das Dasein des Menschen muss sich nicht notwendig nachteilig auf die Natur (und rückwirkend auf uns selbst) auswirken. Landschaftspflege im Sinne von extensiver Landwirtschaft hat über Jahrhunderte im „alten Europa“ für Vermehrung und Gewährung von Biodiversität gesorgt.

Stefan Reinsch, Sohn des langjährigen Braunschweiger Geologieprofessors und Kurators der Mineraliensammlung, betreut im niedersächsischen Wendland am Höhbeck Flächen für NABU, BUND und Loki Schmidt Stiftung und hat so den Hotspot der größten Biodiversität im gesamten norddeutschen Raum geschaffen. Ich habe mich mehrfach mit ihm darüber unterhalten, was „Arbeit“ mit der Natur in diesem Kontext für ihn bedeutet. Für ihn fällt, wie er sagt, der Zeitpunkt, als Beethoven seine 6. Symphonie, die „Pastorale“ schrieb, Anfang des 19. Jahrhunderts, zusammen mit dem Moment der größten Biodiversität in Mitteleuropa. Da möchte er wieder hin. Mit kleineren Aktivitäten kann jeder auch auf kleinen urbanen Flächen zur Erhöhung der Biodiversität in seinem Ökosystem beitragen. Vor knapp zehn Jahren durfte ich beispielsweise auf dem Campus Nord, wo ich lehre, mit einem Kollegen aus der Biologiedidaktik Nisthilfen für Vögel anbringen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie drei Orte: Leipziger Brachen, die wendländische Elbtalaue und einen Ostthüringer Streuobsthang über einem verwilderten Sandsteinbruch. Warum gerade diese Orte?

Diese Orte sind drei Stationen meines Essays, an denen ich mich auf verschiedene Weise intensiv mit dem Thema „Wildnisarbeit“ beschäftigen konnte. Leipzig bietet oder bot bis vor kurzem das spannende Beispiel einer Großstadt, deren innerstädtischer Bereich trotz großer Belebtheit sehr viele Brachen aufwies, an denen sich Natur über Jahre ungestört entwickeln konnte; leider genossen diese Brachen trotz ihrer ökologischen Vielfalt keinen dauerhaften Schutz. Viele dieser Brachen sind, obwohl sie zu einer Verbesserung des Stadtklimas, zur städtischen Biodiversität beitragen und Freiräume für Mensch und Natur bieten, aufgrund kommunaler Bebauungspläne und florierender Immobilienwirtschaft vom Verschwinden bedroht oder bereits getilgt. Das urbane Beispiel Leipzig ist deshalb so spannend, weil es mit dem die Stadt umgebenden Ökosystem des Auwalds zeigt, wie Stadt und Land ökologisch gerade auf Brachflächen zusammenspielen, wenn man diese Brachflächen – etwa mit intelligenteren Bebauungskonzepten – langfristig zu erhalten versuchte anstatt sie kurzzeitigem Profit zu opfern (der übrigens den selbstgesteckten Klimazielen der Kommunen widerspricht).

Die wendländische Elbe scheint das glatte Gegenbeispiel urbaner Bebauung zu sein: Dort, wo einst die innerdeutsche Grenze verlief, ließ Klaus Töpfer das Biosphärenreservat errichten, das gleich vier Bundesländer (Niedersachsen, Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt) über das Band der Elbe hinweg verbindet. Gleichzeitig ist dies durchaus ein Ort, in die der Mensch massiv eingegriffen hat, von Rodung über Landwirtschaft und Deichbau bis zur Grenzsicherung oder den Plänen für das Atommüllendlager Gorleben. Dennoch erweckt vieles dort den Anschein einer fast ungestörten Wildnis und in Bezug auf Artenvielfalt ist sie das auch, ganz exzeptionell für einen Ort zwischen Berlin und Hamburg. Wie Leute im Wendland wie Stefan Reinsch über Wildnis denken und wie sie an ihr arbeiten, das fasziniert mich an dieser Gegend, in die ich häufiger schon mit meinen Studierenden Exkursionen unternommen habe.

Ich selbst bin in Thüringen aufgewachsen und es war mir wichtig, ein Beispiel aus meiner eigenen Anschauung aus „Ostdeutschland“ – ich selbst versuche eigentlich zu vermeiden, in so groben Kategorien wie Ost und West zu denken – hinzuzufügen, das sowohl die gängigen West-Stereotype über den Osten als auch neue Stereotype des Ostens über sich selbst vermeidet. Natur kennt kein Ost und West, sie kennt den Wind, der Sporen und Pollen, also potentielle Wildnis mit sich führt und über Land verteilt. Das Hermsdorfer Kreuz ist schon zu DDR-Zeiten ein Transitort gewesen. Die Mobilität, in der sich Deutschland Ost und West damals schon trafen, ist heute eine europäische Drehscheibe. Gleichzeitig gibt es dort Sandsteinbrüche wie Fenster in die Tiefenzeit der Erdgeschichte, vermeintlich karge Natur mit alten Streuobstwiesen, die weiter erhalten werden wollen.

Welche Rolle spielt für Sie das „Tun“ im Verhältnis zum „Schreiben“ in diesem Buch?

Das „Tun“ ist im Kontext des Nachdenkens eines Geisteswissenschaftlers über Ökologie genau der Punkt, der mich umtreibt. In meinem Fach, der Literaturwissenschaft, ist heute von den „Environmental Humanities“ die Rede, das Anthropozän wird erforscht, anthropozänes Schreiben und Denken, nichtmenschliche und menschliche Akteur*innen mit ihren verschiedenen Eigen- und Tiefenzeiten. All das ist hochspannend, aber – was für Naturwissenschaftler*innen und Ingenieur*innen eine Selbstverständlichkeit ist –, es ergibt für mich nur Sinn, wenn die Verbindung zum praktischen Tun auch oder gerade aus der Position der Geisteswissenschaften eingenommen und mit einbezogen wird. Die Geisteswissenschaften können sich in Zeiten des Klimanotstands und des Artensterbens nicht mehr darauf zurückziehen, dass sie ja nur theoretisch, gedanklich unterwegs seien. Ich stelle mir, nicht zuletzt im Rahmen des Fachmasters Kultur der technisch-wissenschaftlichen Welt, an dem ich mitwirke, Lehrveranstaltungen vor, in denen die ökologische, literarische und praktische Dimension etwa von Bäumen oder von Vögeln gleichermaßen wichtig ist. Man kann beispielsweise nicht über die „ökologische Dimension von Bäumen in der Literaturgeschichte“ schreiben, ohne zu wissen, wie man eigentlich Bäume pflanzt.

Wie definieren Sie für sich „Nature Writing“ — und was unterscheidet Ihre Herangehensweise von anderen Werken dieses Genres?

Das Nature Writing ist eine literarische Auseinandersetzung mit Natur, die sowohl ein großes Naturwissen und -Tun voraussetzt als auch einen literarischen Formwillen, der sich vom strikt empirischen Schreiben der Naturwissenschaften unterscheidet, dennoch nicht auf Erkenntnisgewinn aus dem Impuls subjektiver Anschauung heraus verzichtet. Es geht dem Nature Writing eher um eine „zarte Empirie, die sich innigst mit ihrem Gegenstand identisch macht“, wie Goethe das aus seiner literarisch-naturwissenschaftlichen Praxis heraus formulierte. Interessanterweise hat die anglophone Literatur, in der sich das Nature Writing seit gut 150 Jahren als eigenständige Schreibform etablierte, immer wieder auf die Deutschen Goethe und Humboldt mit deren Art von Naturdarstellung als Vorbilder verwiesen. Starke Impulse kommen in letzter Zeit vom Cambridger Literaturwissenschaftler Robert Macfarlane, der mit seinen Büchern wie Karte der Wildnis (2008) zum herausragenden Vertreter des sogenannten New Nature Writing avancierte. Mit meinem Begriff von Nature Writing knüpfe ich da an: Einerseits ist die Arbeit an unserer Vorstellung von Wildnis der Fluchtpunkt des Nature Writing und andererseits legitimiert sich Nature Writing – nicht als literarische Gattung, sondern als Haltung zum Gegenstand – in meinen Augen erst über die Verbindung zum konkreten ökologischen Tun, sei es der Einsatz für den Erhalt von Brachen oder die Arbeit auf einer Streuobstwiese oder das „Lassen“ von sogenannter Gartenarbeit wie Laubblasen oder exzessivem Rasenmähen zugunsten der angeflogenen Natur.