„Auschwitz ist nicht einfach so passiert“ TU Braunschweig gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus
Ein Zeichen gegen das Vergessen haben am 27. Januar 2021 Mitglieder der Technischen Universität gesetzt. Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust legten die kommissarische Präsidentin der TU Braunschweig, Professorin Katja Koch, die Präsidentin des Studierendenparlaments, Sabrina Ammann, und Luca Kienel vom AStA-Vorstand an der Stolperschwelle vor dem Altgebäude Blumen nieder. In ihren Ansprachen gedachten sie der Vertriebenen, Diskriminierten, Verfolgten und Ermordeten und mahnten, die Erinnerung an diese Menschen wach zu halten sowie Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus aktiv zu bekämpfen.
Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, in dem zwischen 1940 und 1945 mehr als eine Millionen Menschen durch Nationalsozialisten ermordet wurden. Seit 1996 wird in Deutschland am 27. Januar mit dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ an die Verbrechen der NS-Herrschaft erinnert. An der TU Braunschweig ist seit 2014 die Stolperschwelle an der Freitreppe vor dem Altgebäude ein Ort des Gedenkens. Diese hatte der Kölner Bildhauer Gunter Demnig in Kooperation mit dem Verein „Stolpersteine für Braunschweig e.V.“ verlegt. Die Stolperschwelle trägt die Inschrift: „In Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus an unserer Hochschule. Diskriminiert, entlassen, vertrieben, verfolgt, ermordet.“
Da in diesem Jahr die Gedenkveranstaltung aufgrund der Corona-Pandemie nur in kleinem Kreis stattfinden konnte, veröffentlichen wir die Ansprachen in voller Länge:
Ansprache von Sabrina Ammann, Präsidentin des Studierendenparlaments, und Luca Kienel, Mitglied des AStA-Vorstands:
Sabrina Ammann: „Der AStA und das Präsidium des Studierendenparlamentes laden gemeinsam ein, um ein Zeichen zu setzen, dass wir als gewählte Vertreter unserer studentischen Demokratie gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus gedenken.“
Luca Kienel: „In Zeiten, in denen die Corona Pandemie auch für uns Studierende das alles beherrschende Thema ist und viele von uns unter der Pandemie leiden, darf die Erinnerung an diese Schicksale nicht untergehen. Mit Sorge sehe ich, dass im Windschatten von berechtigten Ängsten um das Corona-Virus Gruppierungen mit eindeutiger Agenda, z.B. via Telegramm, Räume für sich entdecken, wo sie ihre in der Gesellschaft zurecht geächteten Ansichten verbreiten können.“
Sabrina Ammann: „Daher ist es umso wichtiger, dass gemeinsame Gedenkveranstaltungen nicht zu einem „Schönwetterritual“ werden, welche nur durchgeführt werden, wenn es gerade passt, sondern zentraler Bestandteil unserer Erinnerungskultur bleiben und wir Präsenz zeigen als Mehrheit in der Gesellschaft.“
Luca Kienel: „Es freut uns umso mehr, dass die Präsidentin Frau Koch auch in diesen Zeiten unserer Einladung zum nunmehr 3. Mal gefolgt ist und damit den Status als Tradition an unserer Hochschule gefestigt hat. Damit ist ein wichtiges Ziel unserer Studierendenschaft erreicht. Studierende, die sich gegen Rassismus und Faschismus im Hochschulkontext engagieren möchten, können dies in dem Anti-Faschismus und Rassismus Referat des AStAs tun!“
Ansprache der kommissarischen Präsidentin der TU Braunschweig, Professorin Katja Koch:
„Wir befinden uns in sonderbaren und wirklich schwierigen Zeiten. Vor knapp einem Jahr hat uns die Pandemie in die größte weltumspannende Krise seit vielen Jahren versetzt. Die TU Braunschweig befindet sich im Lockdown light, die Lehrampel springt am Wochenende auf rot, und wir leben seit Monaten mit einem fast leeren Campus und müssen auf vieles verzichten. Bei etlichen von uns liegen die Nerven blank. Es wird über Ungleichheit und die Spaltung der Gesellschaft diskutiert. Mancherorten wird die Pandemie mit einem Krieg verglichen.
Und doch geht es uns gut. Sehr gut sogar, wenn wir unsere Situation mit derjenigen in Deutschland bis 1945 vergleichen. Wir leben in einer Demokratie. Hier an der TU Braunschweig haben wir es bis jetzt sehr gut geschafft, den Betrieb aufrecht zu erhalten, und auch unseren Zusammenhalt als akademische Gemeinschaft, wenn man das einmal ganz grob betrachtet so sagen kann.
Wie anders war dies zur Zeit der Nazi-Diktatur. Mehr als 50 Angehörige der damaligen TH Braunschweig wurden zwischen 1933 und 1945 Opfer des Nationalsozialismus. Insgesamt kehrten nur elf Dozenten nach dem Krieg an die Hochschule zurück. Sechs waren 1945 nicht mehr am Leben. Ich glaube nicht, dass wir uns heute gut vorstellen können, wie die Stimmung in der Hochschule damals war. Zum Glück haben engagierte Mitglieder unserer Universität die Zeit aufgearbeitet und sowohl die Perspektive der Opfer als auch die der Täter umfassend in je einem Buch dokumentiert.
Ein Blick in die beiden Bände lohnt sich gerade heute. Ich kann gut verstehen, dass viele von uns unter der Corona-Pandemie leiden. Doch wenn ich höre, dies sei die schlimmste Krise aller Zeiten, oder wenn gar Populisten heute Vergleiche mit der damaligen Zeit ziehen, finde ich das inakzeptabel, ja unerträglich. Wer solche Vergleiche zieht, verharmlost das Leid der Opfer der NS-Diktatur. Er oder sie leistet damit – ob bewusst oder nicht – dem Erstarken antidemokratischer Kräfte Vorschub.
Daher bin ich gerade jetzt froh über die Einladung unserer Studierenden, den Gedenktag erneut mit einer Kranzniederlegung an der Stolperschwelle zu begehen. Als Universität haben wir eine besondere Verantwortung. Dieser Verantwortung sind wir 1933 bis 1945 nicht gerecht geworden – das darf nicht wieder geschehen.
Heute müssen wir zusehen, wie die Zahl der Zeitzeugen rapide kleiner wird. Die letzten Überlebenden der Shoah beschäftigt es sehr, dass die Vergangenheit in Vergessenheit gerät. Wenn sie ihre Geschichten nicht mehr selbst erzählen können, müssen wir es für sie tun. Damit wir die Fehler unserer Vorgänger und Vorgängerinnen nicht wiederholen.
Wir sind heute zurecht stolz auf unsere demokratische Tradition. Wir dürfen froh sein, dass wir hier auch in schlechten Zeiten zusammenstehen und gemeinsam gedenken. Normalerweise wären viel mehr Menschen hier mit uns, um ihre Solidarität zu bekunden. Aus Sicherheitsgründen halten wir diese Veranstaltung nur sehr klein, wir dokumentieren die Kranzniederlegung online und laden in den sozialen Medien zur Solidarität ein.
Doch dabei darf es nicht bleiben. Es ist unfassbar, aber leider wahr, dass in der Pandemie einige der alten Verschwörungserzählungen wieder zutage treten, die bereits in den 1930er Jahren eskaliert sind. Lassen Sie uns, gemeinsam und jeder und jede an seinem und ihrem Platz, Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus aktiv bekämpfen, ihnen entgegentreten, wo wir sie sehen. Wir sollten aber auch und gerade das Gespräch mit denen suchen, die in diesen Zeiten Fragen haben, die ängstlich und verunsichert sind.
Unsere Mitglieder zeigen Zivilcourage, an vielen Stellen, und darauf bin ich stolz. Wenn wir die Regenbogenfahne hissen, die Charta der Vielfalt umsetzen, wenn wir versuchen klischeefrei und möglichst barrierearm miteinander zu arbeiten und zu lernen, wenn wir Geflüchtete unterstützen. Wenn wir unserer Gesellschaft, die viel in ihre Hochschulen investiert, etwas zurückgeben, indem wir uns kümmern. Dann tun wir aktiv etwas nicht nur für einander, sondern für eine lebendige und stabile Demokratie.
Auschwitz ist nicht einfach so passiert. Es darf nicht wieder geschehen, und wir können dafür sorgen. Die Stolperschwelle soll uns immer daran erinnern.“