Thomas Meinecke erhält Ricarda Huch Poetikdozentur 2019 Lehrauftrag mit Preisträger im Sommersemester
Der Autor, Musiker und Texter Thomas Meinecke erhält für sein bisheriges Werk den Preis der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt 2019. Der Preis wird von der Stadt Braunschweig, der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Braunschweig, dem Braunschweiger Zentrum für Gender Studies (BZG) und dem Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte gestiftet und umfasst ein Preisgeld von 7.000 Euro sowie einen dotierten Lehrauftrag im Sommersemester 2019.
Die Verleihung des Preises an Thomas Meinecke sowie der mit einer Lesung verbundene Auftakt zu den öffentlich zugänglichen Vorlesungen findet am 16. Mai 2019 im Architekturpavillon der TU Braunschweig, Pockelsstr. 4, 19 Uhr, statt. Weitere, der Stilwelt des Autors angepasste collagierte Vorlesungen, folgen bis in den Juli 2019. Geplant ist auch eine Veranstaltung von und mit Thomas Meinecke in einem Braunschweiger Club. Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei.
Das Votum der Jury
Immer wieder begibt sich Thomas Meinecke mit seinen Romanen auf die Suche nach existenziellen Fragen: Was ist Sexualität? Welche Utopien des Miteinanderlebens gibt es mit Blick auf Geschlechtlichkeit im Kontext scheinbar immer noch fest zugeschriebener Lebensentwürfe? Seine Werke orientieren sich formal am Re-Mix aktueller Musik, mit der er sich als DJ und Musiker auseinandersetzt. Wie schon in „Tomboy“ (1998) suchen seine Romanfiguren, auch in seinem jüngsten Werk „Selbst“, gemeinsam nach vergangenen und gegenwärtigen Weggefährtinnen und -gefährten. Dies geschieht in breitflächigen Collagen aus Literaturzitaten, Rechercheprotokollen und Internettexten. In die Gespräche zwischen Eva, Genoveva, Sirius und Venus mischen sich, etwa die sozialkritische Romantikerin Bettina von Arnim und heute vergessene Utopisten, die 1848 in Texas mit neuen Formen des Zusammenlebens experimentierten. Die Gespräche der Romanfiguren drehen sich auch um Texte zum Feminismus und zum weiblichen Schreiben, z.B. von Judith Butler und Hélène Cixous. Es entsteht das Mosaik einer Gegenwart, in der das Überschreiten von Geschlechtergrenzen längst Realität ist. Meineckes Romanfiguren leben und arbeiten als selbstorganisierte Forschende oder androgyne Models. Sie suchen nach Menschen, die ihnen im Überschreiten von Geschlechtergrenzen vorangingen und werden selbst zu Personifizierungen einer nicht mehr normierbaren Zuweisung von Geschlecht, Körperlichkeit und Sexualität. Ihre Suche nach offen zu lebender Zärtlichkeit zeigt Möglichkeiten von Lebens- und Arbeitswelten auf, die über die in westlichen Gesellschaften herrschenden Normen hinausweisen.
Virtuos verknappt in der Sprache und mutig in der Konfrontation mit seitenweisen, vielfach auch englischsprachigen Zitaten, wird die queere Theorie in literarische Formen gegossen. Die Text-Fundstücke seiner Figuren präsentieren keine neue Wahrheit, sondern eine fortwährende Suche nach Grenzüberschreitungen – in der Mehrheitskultur ebenso wie in verschiedenen Formen von Diaspora. Diaspora ist auch ein Thema in Hellblau (dessen Figuren nach elektronischer Musik aus Detroit, nach den Kulturen des schwarzen Nordamerika und Hedy Lamarr, der heute vergessenen Erfinderin der Bluetooth-Technologie suchen, die im Hauptberuf Schauspielerin war), oder in Jungfrau, wo sich zwei Figuren auf einer emotionalen und intellektuellen religiösen Suche befinden. Die Offenheit für den oder die Andere/n ist Meineckes Variante des weiblichen Schreibens. Mit geradezu obsessiver Belesenheit entfaltet er in seinen Romanen, zuletzt in Selbst, ein Tableau anderen Lebens. Nicht normierte Existenzformen, global und kollektiv gedacht, werden öffentlich gelebt, kontextualisiert und mit Fragen nach der Zukunft des philosophischen Diskurses verknüpft. Atmosphärisch überzeugend lösen seine Romane die Grenzen von sicherem Selbst und verlässlichem Original auf und bleiben am Ende bewusst fragmentarisch ebenso offen wie die in sie integrierten Zitat-Reihen. Seine Romane sind cross-overs von Form, Sprache und Gehalt, an der Grenze zu einem neuen Nach-Denken über Selbst, Identität und Sexualität.
Vita Thomas Meinecke
Thomas Meinecke wurde 1955 in Hamburg geboren, lebte ab 1977 in München und zog 1994 in ein oberbayrisches Dorf. Von 1978 bis 1986 war er Mitherausgeber und Redakteur der Avantgarde-Zeitschrift Mode & Verzweiflung, in den Achtzigerjahren schrieb er Kolumnen für die ZEIT, ab 1986 veröffentlichte er Erzählungen und zahlreiche Romane, zuletzt den Roman Selbst (2016) im Suhrkamp Verlag. Außerdem war er von 2007 bis 2013 Kolumnist für das Berliner Magazin Groove. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Düsseldorfer Literaturpreis (2003) und dem Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst (2008). Im Wintersemester 2012 hatte er die Poetikdozentur an der Goethe-Universität Frankfurt inne, 2014 war er Writer in Residence an der Queen Mary University in London und 2016 Fellow am IFK in Wien. Thomas Meinecke ist außerdem Musiker und Texter in der 1980 von ihm mitgegründeten Band Freiwillige Selbstkontrolle (FSK), Radio-DJ in seiner Sendung Zündfunk Nachtmix (BR 2) und hat auch als Solokünstler Platten aufgenommen.